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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


ihrer Kriegsführung zu rühmen. Natürlich ließ sich die französische Regierung einen theoretisch so gebildeten und praktisch so erfahrenen Astronauten wie Professor Gaston Tissandier nicht entgehen. Schon am 29. September ward er vor die Oberpostbehörde citirt.

„Sind Sie geneigt, sich als Luftschiffer uns zur Verfügung zu stellen?“ frug man ihn.

„Sobald und so oft Sie es wünschen.“

„Gut. So rechnen wir auf Sie morgen früh sechs Uhr in der Gasanstalt von Vaugirard. Dort werden Sie Ihren Ballon gefüllt und die zu befördernden Depeschen bereit finden.“ –

„Mit zweien meiner Brüder, welche mir bis zur Station das Geleite geben wollten, verlasse ich denn früh um fünf Uhr meine Wohnung,“ erzählt Tissandier. „In der angewiesenen Gasanstalt sehe ich allerdings meinen Ballon, allein er liegt auf der Erde gleich einem Haufen Lumpen. Es ist der ‚Céleste‘, ein kleines Vehikel von siebenhundert Kubikmetern, den sein Eigenthümer der Regierung überlassen hat. Mir ist’s ein alter Bekannter, welcher mir im verflossenen Jahre beinahe den Hals gebrochen hätte. Ich betrachte ihn deshalb mit einer gewissen Pietät. Aber in welcher entsetzlichen Verfassung muß ich ihn erblicken! Es hat letzte Nacht gereift, und der Bursche ist ganz gefroren, sein Zeug steif und brüchig. Guter Gott! und bei dem Ventile sehe ich Löcher, in welche man den Finger legen kann. Rundherum aber zieht sich ein Kranz von kleineren Oeffnungen. Das ist ja kein Ballon mehr! Das ist ein Schaumlöffel!

Mittlerweile erscheinen die Aëronauten, die den Ballon füllen sollen. Sie bringen eine brave Näherin mit, welche die Beschädigungen ausbessert, während mein Bruder alle jene kleinen Oeffnungen mit Papierstreifen überklebt. Das Alles kann mich jedoch noch nicht groß beruhigen, wenn ich bedenke, daß ich in diesem elenden Gefährt allein in die Lüfte emporsteigen soll. Meine Phantasie zeigt mir schon die Preußen auf mich wartend. Ich sehe, wie sie ihre Gewehre auf mich anlegen und mein armseliges, von Alter und Gebrauch hinfällig gewordenes Luftschiff mit einem Kugelregen überschütten.

Als ich das letzte Mal mit dem Céleste aufstieg, konnte ich mich blos fünfunddreißig Minuten in der Luft erhalten! Alle diese Erinnerungen und Perspectiven waren eben nicht tröstlicher Art.

Meine Freunde gaben sich deshalb auch alle Mühe, mich von dem Wagniß mit einem solchen Ballon zurückzuhalten. Schon beginne ich zu schwanken, da trifft die Post mit ihren Briefschaften ein. Ueberdies ist der Wind sehr günstig. Er weht aus Osten, und so werde ich mich in der Normandie wieder zur Erde herablassen können. Währenddem erscheint noch Ernst Picard und überbringt mir ein kleines Bündel wichtiger Depeschen für Tours, welche ich im Falle der Noth, so empfiehlt er mir, entweder verschlucken oder verbrennen solle. Mithin gilt es kein Zaudern mehr! Mit offenen Augen, mit tapferem Herzen und Armen gebe ich mich meinem Schicksal anheim. Bis jetzt ist ja Gott noch immer mit uns Aëronauten gewesen!

Um neun Uhr ist der Ballon gefüllt. Das Schiffchen wird an ihm befestigt. Ich lege die Ballastsäcke und drei Briefpakete, zusammen ein Gewicht von achtzig Kilogrammen, hinein. Eben will ich einsteigen, als noch ein Herr angekeucht kommt, einen Käfig mit drei Tauben unter dem Arme. Es ist Van Roosebeke, dem die officielle Sorge für diese kostbaren Boten obliegt.

‚Haben Sie ja recht Obacht auf meine Pfleglinge,‘ sagt er mir. ‚Sowie Sie sich zur Erde niedergelassen haben, geben Sie ihnen zu trinken und einige Körner Gerste. Wenn sich die Vögel gesättigt haben, lassen Sie zwei davon fliegen, um uns durch sie die Meldung von Ihrer glücklich vollbrachten Luftfahrt zu senden. Die dritte Taube, die mit dem braunen Kopfe – sie hat schon große Reisen gemacht und wäre mir nicht für fünfhundert Franken feil – nehmen Sie mit nach Tours. Sehen Sie aber ja darauf, daß sie sich auf der Eisenbahn nicht zu sehr ermüdet.‘

Endlich stehe ich in der Gondel. Ich umarme meine Brüder und Freunde. Der Augenblick ist ernst und feierlich; das Herz klopft mir laut vor Aufregung, nicht vor Angst. Denn der Gedanke, daß das Vaterland in Gefahr ist, daß um mich herum brave Soldaten für dasselbe bluten, erfüllt mir die Seele.

‚Los!‘ rufe ich und schwebe schon mitten in der Luft! –

Der Ballon erhebt sich mit sehr mäßiger Geschwindigkeit. Die Gasanstalt von Vaugirard und die Gruppe der Freunde, welche mir wieder und immer wieder ihre Abschiedsgrüße zuwinken, schwinden mir nur langsam aus den Augen. Energisch schwenke ich meinen Hut zum Gegengruße, – bald indeß erweitert sich der Horizont. Zu meinen Füßen dehnt sich das ungeheure Paris aus; die Festungswerke umgeben es wie eine Schnur. Dort, bei Vaugirard, unterscheide ich den Dampf der Geschütze, deren Donner dumpf und düster bis zu mir heraufschallt. Die Forts von Issy und Vanves erscheinen mir wie Miniaturfestungen. Jetzt schwebe ich über der Seine, Angesichts der Insel Billancourt.

Es ist neun Uhr fünfzig Minuten; schon bin ich dreitausendfünfhundert Fuß hoch. Meine Augen können sich nicht trennen von der Landschaft. Doch welch herzzerreißendes Schauspiel bietet sich meinen Blicken dar! Ich werde es nimmermehr vergessen! Sind das die sonst so lachenden und belebten Umgebungen von Paris? Ist das die Seine mit ihren Booten und Nachen? Nein, das ist die Wüste in aller ihrer Oede und Entsetzlichkeit! Kein Mensch auf den Straßen, kein Wagen, kein Bahnzug. Alle Brücken zerstört, Trümmer über Trümmer! Kein Soldat, keine Schildwache, nichts, nichts, überall das Schweigen des Kirchhofs. Man könnte sich vor die Thore einer durch die Zeit zerstörten Stadt des Alterthums versetzt glauben; man muß sein Gedächtniß anstrengen, um sich zu erinnern, daß neben dieser Wüste zwei Millionen Menschen hinter einer ungeheuren Mauer eingekerkert sind!

Zehn Uhr. Die Sonne glüht und leiht meinem Ballon Schwingen. Unter der Einwirkung der Sonne dehnt sich das Gas im Céleste aus. Mit reißender Geschwindigkeit strömt es über meinem Kopfe durch den sogenannten Anhang aus und belästigt mich momentan durch seinen Geruch. Neben mir ertönt ein leises Girren. Es sind meine Tauben, die sich in ihrer Lage nichts weniger als behaglich zu fühlen scheinen und mich ängstlich ansehen.

Der Zeiger meines Breguet-Barometers dreht sich ziemlich rasch um das Zifferblatt. Er kündet mir an, daß ich ununterbrochen höhwärts steige. Mit Einem Male bleibt er stehen bei dem Punkte, der einer Höhe von sechstausenddreihundert Fuß über dem Meeresspiegel entspricht.

Die Hitze wird wahrhaft unerträglich. Die Sonne sendet mir ihre Strahlen voll in’s Gesicht und verbrennt mich; kaum, daß ich mich mit etwas Wasser kühlen kann. Ich ziehe meinen Palelot aus, setze mich auf meine Depeschensäcke, stütze den Ellenbogen auf den Rand meines Schiffchens und betrachte schweigend das wundervolle Panorama, welches sich vor mir ausbreitet.

Der Himmel ist indigoblau. Seine Klarheit, sein intensiv warmer Ton könnten mich denken lassen, ich befinde mich in italienischer Atmosphäre. Schöne Silberwolken schweben über den Landschaften in der Tiefe; manche so weit unter mir, daß es scheint, als ruhten sie weich auf den Bäumen aus. Ein paar Augenblicke überlasse ich mich einer sanften Träumerei, jenem eigenthümlichen Reize der Luftfahrten; es ist mir, als glitte ich in einem Zauberlande dahin, in einer Welt ohne lebende Wesen, der einzigen, die der Krieg noch nicht heimgesucht hat mit seiner Geißel. Der Anblick von Saint Cloud jedoch, welches ich jetzt zu meinen Füßen erkenne, drüben am andern Seineufer, führt mich in die Wirklichkeit zurück, in die traurige Gegenwart. Ich lenke meine Blicke der Richtung von Paris zu, allein dort liegt Alles schon unter einem Nebelschleier verborgen.

Indessen treibt mich der Wind constant vorwärts, wie ich aus meinem Compasse ersehe. Unter mir beginnt Versailles, die Wunder seiner Bauten und Gärten zu entfalten.

Bis hierher habe ich nur Wüsten und Einöden geschaut. Jenseit des Parkes von Versailles ändert sich das Bild. Die Preußen sind es, welche ich tief unter meinem Schiffchen sich bewegen sehe. Ich bin fünftausendsechshundert Fuß über dem Niveau der See, keine Kugel also könnte mich erreichen. So nehme ich denn mein Augenglas und beobachte aufmerksam diese Soldaten, die, von meinem Luftschiffe aus gesehen, sich noch winziger darstellen als die Krieger eines liliputanischen Heeres. Deutlich bemerke ich, wie von Trianon Officiere auf die Straße heraustreten und mich mit ihren Lorgnetten fixiren. Sie verfolgen mich lange Zeit, – und allenthalben zeigt sich eine gewisse Bewegung. Sie recken sich in die Höhe und erheben die Köpfe nach meinem Céleste. Welcher Trost für mich, daß ich ihren Gelüsten entrückt bin, daß sie meine Briefe nicht abfangen und meine Depeschen nicht lesen können! Doch da fällt mir ein, daß mir zehntausend Proclamationen in deutscher Sprache an die Adresse der feindlichen Armee übergeben worden sind.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 786. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_786.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)