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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

des Arztes mit Kindern von drei bis sechs Jahren. In gesunden Tagen wird der Arzt und der Schornsteinfeger gar oft als Erziehungsmittel gebraucht: ‚Kind, wenn Du nicht brav bist, kommt der Schornsteinfeger und holt Dich!‘ oder: ‚Kind, wenn Du zu viel davon issest, so kommt der Doctor und gibt Dir bittere Arznei, oder setzt Dir gar Blutegel an!‘ Die Folge ist, daß, wenn in schlimmen Zeiten der Doctor gerufen in das Zimmer tritt, der kleine kranke Engel zu heulen, sich zu wehren und um sich zu treten anfängt. Eine Untersuchung des Zustandes ist schlechterdings unmöglich; stundenlang aber kann der Arzt nicht den Beruhigenden, Besänftigenden machen. Da half mir gewöhnlich rasch ein Blättchen Papier und Bleistift; eine der Geschichten, wie sie in dem Buche stehen, wird rasch erfunden, mit drei Strichen gezeichnet, und dazu möglichst lebendig erzählt. Der wilde Oppositionsmann wird ruhig, die Thränen trocknen, und der Arzt kann spielend seine Pflicht thun.

So entstanden die meisten dieser tollen Scenen, und ich schöpfte sie aus vorhandenem Vorrathe; Einiges wurde später dazu erfunden, die Bilder wurden mit derselben Feder und Tinte gezeichnet, mit der ich erst die Reime geschrieben hatte, Alles unmittelbar und ohne schriftstellerische Absichtlichkeit. Das Heft wurde eingebunden und auf den Weihnachtstisch gelegt. Die Wirkung auf den beschenkten Knaben war die erwartete; aber unerwartet war die auf einige erwachsene Freunde, die das Büchlein zu Gesicht

Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 4. Quartier in Dorf Puxe bei Metz.
Von F. W. Heine.

bekamen. Von allen Seiten wurde ich aufgefordert, es drucken zu lassen und es zu veröffentlichen. Ich lehnte es anfangs ab; ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, als Kinderschriftsteller und Bilderbüchler aufzutreten. Fast wider Willen wurde ich dazu gebracht, als ich einst in einer literarischen Abendgesellschaft mit dem Einen meiner jetzigen Verleger gemüthlich bei der Flasche zusammensaß. Und so trat das bescheidene Hauskind plötzlich hinaus in die weite offene Welt und machte nun seine Reise, ich kann wohl sagen, um die Welt, und ist heute seit sechsundzwanzig Jahren bis zur neunundsechszigsten Auflage gelangt. Von Uebersetzungen ist mir bis jetzt eine englische, holländische, dänische, schwedische, russische, französische, spanische und eine portugiesische (für Brasilien) zu Gesicht gekommen.

Ich muß dabei auch des sonderbaren Erfolges erwähnen, den das Büchlein anfangs in Frankfurt selbst hatte. In den ersten Monaten des Jahres 1846, nachdem der Struwwelpeter am vergangenen Christfest zum ersten Male in die Kinderwelt getreten war, wurde ich oft von dankbaren Müttern oder entzückten Vätern auf der Straße angehalten, welche mich mit den Worten begrüßten: ‚Lieber Herr Doctor, was haben Sie uns eine Freude gemacht! Ich habe da zu Hause ein dreijähriges Kind, welches sich bis jetzt sehr langsam entwickelte und nun in ganz kurzer Zeit das ganze Buch auswendig weiß und ganz allerliebst hersagt. Ich versichere Sie, in dem Kinde steckt was!‘ – Damals waren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 769. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_769.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)