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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

klugen Manne reiste, um den Urheber entdecken zu lassen. Wir zweifeln nicht, daß der kluge Mann Alles that, diesen Glauben zu bestärken. Welches Gefühl aber mußte in der Brust des Unglücklichem gegen Den erstehen, auf den der Verdacht, der boshafte Vernichter seines ganzen Lebensglückes zu sein, gelenkt würde!

Bei Diebstählen bedient sich der kluge Mann meist des Kunstgriffes, zu sagen, daß durch seine Vorkehrungen gezwungen, der Dieb das Gestohlene selbst wiederbringen werde. Der Bestohlene werde es in so und so viel Zeit wiederfinden, sonst würde den Dieb die schwerste Strafe treffen. Ist nun der Dieb im Orte und ebenso abergläubisch wie der Bestohlene, so säumt derselbe natürlich nicht, sich des gefährlichen unrechten Gutes zu entledigen, sobald er von den Drohungen des klugen Mannes Kenntniß erhält. Dies trägt natürlich nicht wenig dazu bei, den wunderbaren Ruhm des Letzteren zu erhöhen. Die Fälle, in denen der Dieb nicht abergläubisch genug ist, das Gestohlene selbst wiederzubringen, wo also der kluge Mann im Stiche läßt, werden nicht gerechnet und vergessen. Ueber die Person des Diebes bewegt sich der kluge Mann in dunklen Andeutungen. Ist es ihm gelungen, zu erfahren, auf wen der Bestohlene Verdacht habe, so verfehlt er natürlich nicht, denselben zu bestärken.

Der kluge Mann steht meist mit dem Gastwirthe seines Dorfes in Verbindung. In dessen Hause muß natürlich jeder Hülfesuchende einkehren. Hier erfährt er auch am Ersten, wo der kluge Mann wohnt. Der Wirth äußert sofort die allerdings nicht fern liegende Vermuthung, daß dem Fremden gewiß irgend ein Leid widerfahren sei, gegen das er die Hülfe des klugen Mannes in Anspruch nehmen wolle, zeigt die wärmste Theilnahme und nöthigt seinen Gast, für’s Erste einmal sich leiblich zu stärken, und dann den klugen Mann aufzusuchen, der, versichert er, sein Handwerk verstehe wie Keiner.

Der Fremde, sichtlich aufgerichtet durch den tröstenden Zuspruch, der ihm hier zu Theil wird, setzt sich nieder, ißt und trinkt, läßt sich die Gesellschaft des gar so freundlichen Wirthes gern gefallen und wird dabei von diesem über Namen, Stand, Herkommen, über die Ursache seines Leidens über Alles auf das Genaueste ausgeforscht, ehe er’s nur ahnt. Plötzlich wird der Wirth hinausgerufen; er soll nach dem Stalle sehen, heißt es. Der Fremde bleibt noch eine Weile sitzen, denn er kann die Flasche Bier vor sich doch nicht halbgeleert stehen lassen. Endlich treibt auch ihn die Unruhe fort.

Der kluge Mann sitzt schon vor der Thür seines Hauses, wie wenn er ihn erwarte. Er ruft dem erstaunten Fremden dessen Namen entgegen, er weiß bereits, was ihm alles Schlimmes widerfahren, weiß, daß ihm während der Ernte ein Sack voll Thaler aus dem Wandschrank gestohlen worden ist, und weiß auch, daß sein Gast keinem Menschen noch ein „Sterbenswörtchen“ von seinem Unfall erzählt hat. Trotzdem weiß er, wie gesagt, Alles bis in’s Kleinste und der gute Fremde fällt vor Staunen fast auf den Rücken. Diese Allwissenheit des klugen Mannes kann unmöglich mit rechten Dingen zugehen und er schwört nunmehr darauf, daß er, wenn irgendwo, nur hier mehr zu seinem verlorenen Gute, wieder gelangen könne. Befriedigt verläßt er den klugen Mann, um einige harte Thaler ärmer, aber um eine gewichtige Hoffnung reicher. Im Wirthshause aber sitzt der Wirth, in die Faust lachend – denn daß der Fremde nun auch noch einmal bei ihm einkehren werde, auf das gute Gelingen seines Unternehmens eine zweite Flasche zu leeren, weiß er ganz gewiß, und daß sich binnen Kurzem auch der kluge Mann einfinden wird, mit ihm die erschwindelte Beute zu theilen, ist ebenso sicher.

Auch Leute, welche sich selbst nicht für abergläubisch halten, die zu den Erzählungen über Hexen und Hexenmeister spotten und lachen, glauben wenigstens an Sympathie und man kann sofort von ihnen Fälle anführen hören, in denen dieselbe Wunder gethan hat. Für Solche, denen das Verfahren unbekannt sein sollte, diene zu wissen, daß der leidende Körpertheil von dem Sympathiemanne mit irgend etwas, zum Beispiel einem Zwirnsfaden, unter Murmeln einer Zauberformel oder heiliger Namen in Berührung gebracht wird. Dieser Zwirnsfaden, oder was es sonst sei, wird dann vergraben, oder unter einer Dachtraufe angebracht, oder dem fließenden Wasser übergeben, und wie dergleichen Vorschriften mehr sind, die in tausend Arten existiren. Das Uebel verschwindet mit dem Gegenstande. Dem Abnehmen und Zunehmen des Mondes wird bei Vornahme des Sympathiezaubers eine sehr große Wirkung zugeschrieben.

Der meiste Wunderglaube aber ist, wie wohl auch anderswo in Deutschland, mit der die Phantasie unseres Volkes so gewaltig gefangen nehmenden Weihnachtszeit und der letzten Nacht im Jahre verknüpft. So geht Alles, was man in den zwölf Nächten vom Weihnachtsabende bis zum drei Königstage träumt, in dem Monate, welcher der Zahl nach der Nacht entspricht, in der man geträumt hat, in Erfüllung. Kein Spinnrocken darf in den zwölf Nächten unabgesponnen bleiben, sonst thut Frau Holle der nachlässigen Spinnerin Schimpf und Schabernack an.

Am Neujahrsabende aber ist es möglich, sichere Blicke in die Zukunft zu thun. Wer Muth genug in sich fühlt, kann die Ereignisse des folgenden Jahres in der Neujahrsnacht im Voraus sehen, wenn er in der Mitternachtsstunde auf ein frisches Saatfeld oder auf einen Kreuzweg tritt, ein Verfahren, welches man „gucken“ nennt. Hier ziehen die, welche im nächsten Jahre sterben werden, vor ihm vorüber; auch Feuersbrünste und andere Unglücksfälle zeigen sich ihm an. Doch wehe ihm, wenn er aus seinem Kreise tritt, oder vor Verlauf einer gewissen Zeit etwas von dem Gesehenen verräth, dann ist er selbst dem Tode verfallen!

Eine sehr ergötzliche Geschichte trug sich einmal in Folge einer solchen Zukunftseherei in unserer Nähe zu. Ein praktischer Arzt fuhr in der Neujahrsnacht auf seinem mit zwei Rappen bespannten Schlitten nach Hause. Da bemerkte er, als er zu einer Stelle kam, welche einen Kreuzweg bildet, daß ein Mann mitten auf der Straße stehe, welche er passiren mußte. Da derselbe unbeweglich blieb und nicht auf die Seite wich, mußte der Arzt seine Pferde vorbeilenken, um den Menschen nicht über den Haufen zu fahren. Erzürnt über die Mühe, die ihm die Hartnäckigkeit des Stehenden verursachte, gab er ihm im Vorbeifahren einen derben Schlag mit der Peitsche über das Gesicht, wobei er nur bemerkte, daß der Mensch wie ein Stück Holz zu Boden fiel. Ohne sich um das Schicksal desselben weiter zu kümmern, fuhr der Arzt nach Hause, wurde aber, als er noch nicht lange der Ruhe genossen hatte, herausgeklopft und zu einem, wie man ihm sagte, sehr gefährlichen Patienten über Land geholt. Er war nicht wenig erstaunt, an dem Kranken das Zeichen seines Peitschenhiebes über das Gesicht zu sehen. Die durch denselben verursachte Verletzung war jedoch weniger bedenklich, als die Sprachlosigkeit des Kranken, der auf keine Frage antwortete. Man kann sich leicht in die Lage des Arztes versetzen, der sich Vorwürfe darüber machte, durch den ausgetheilten Schlag und den dadurch verursachten Schreck diesen traurigen Zustand herbeigeführt zu haben. Er hütete sich aber wohl, sich als Thäter zu erkennen zu geben, und bot alle seine Kunst und allen seinen Scharfsinn auf, die Sprachlosigkeit des Kranken durch passende Mittel zu beseitigen, doch nichts wollte helfen. Arzt und Angehörige waren in Verzweiflung. Endlich nach neun Tagen kehrte die Sprache des Kranken von selbst zurück und mit ihr löste sich das Räthsel. Der Kranke erzählte nämlich, daß er in der Neujahrsnacht sich nach dem Rathe des klugen Mannes auf den Kreuzweg gestellt und „geguckt“ habe. Da seien ihm nun die schrecklichsten Gesichter erschienen, so daß er vor Furcht ganz von Sinnen gekommen sei. Das Furchtbarste aber sei gewesen, daß zuletzt der Teufel auf einem von zwei schwarzen feuerspeienden Höllenpferden gezogenen Schlitten erschienen sei, der ihn aus seinem Kreise hätte schrecken wollen, um ihm dann den Hals umzudrehen. Er aber hätte das wohl gewußt und sei standhaft stehen geblieben. Da habe ihn der Teufel aus Wuth, daß sein Plan nicht gelungen sei, mit seiner feurigen Geißel über das Gesicht geschlagen, so daß er umgestürzt sei. In diesem Augenblicke habe es Eins geschlagen und die ganze Erscheinung sei mit Schwefelgestank verschwunden. Da er wohl gewußt, daß er neun Tage lang nichts von dem, was er gesehen, verrathen dürfe, weil sonst der Teufel Macht über ihn erhalten hätte, ihm den Hals umzudrehen, so habe er sich stumm gestellt und gar oft innerlich über die Bemühungen des Doctors gelacht, der ihn mit seinen Arzneien wieder sprechen hätte machen wollen.

Man kann sich vorstellen, wie herzlich der Doctor nun seinerseits über den Narren lachte, obwohl er zu gleicher Zeit nicht übel Lust verspürte, ihm nochmals mit der Peitsche über’s Gesicht eine Lection zu geben, diesmal aber lediglich wegen seines einfältigen Köhlerglaubens.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_755.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)