Seite:Die Gartenlaube (1871) 742.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Regierung hat er nicht weniger als fünfundfünfzig größere Bauten vorgenommen. Die schöne Residenz, das Kapuzinerschlößchen u. a. sind das Werk Wolf Dietrich’s von Raittenau.

Das als Gefängniß des Erzbischofs auf Hohensalzburg gezeigte Gemach war offenbar nur eine kleine Nebenkammer, etwa zur augenblicklichen Wegstellung von Speisen und Tischgeräthschaften während der Mahlzeiten. Auch hätte Wolf Dietrich mit seinen zwei Franziskanern und zwei Dienern darin kaum sitzen, geschweige denn gehen und liegen und ebenso wenig hätte ihm der Soldat hier die Schreibmaterialien durch das Fenster reichen können, da dieses sich über einem thurmhohen Abgrunde befindet. Man hat also augenscheinlich das Gemach, dessen ursprüngliche Verwendung in Vergessenheit gerathen war, gewaltsam mit der Haft Wolf Dietrich’s in Verbindung gebracht. Wo sich in der weitläufigen, winkelreichen Felsenburg das wirkliche Gefängniß befunden hat, scheint Niemand zu wissen.




Pariser Bilder und Geschichten.
Eine Pariser Nähterin.


Es ist sechs Uhr Abends. Ein schneidiger Novemberwind fegt über die stäubenden Straßen der Weltstadt und rüttelt zornig an den Dachfirsten, Schornsteinen und Fensterläden der thurmhohen Cité-Häuser. Die Flammen der Gaslaternen zittern und beben unter seinem wilden, ungestümen Anprall; jeden Augenblick scheinen die züngelnden Lichter verlöschen zu sollen, und der flackernde, ungewisse Schimmer, den sie auf die räucherigen Façaden und die verödeten Trottoire werfen, verleiht der ganzen Scenerie etwas unsagbar Freudloses, Gespenstisches.

Im siebenten Stocke jener gigantischen Baracke, deren wettererprobte Frontseite nach dem südlichen Seine-Arm geht, sitzt ein junges Mädchen vor der düster qualmenden Petroleumlampe und handhabt die Nadel. Ihr feines, zierliches Gesichtchen ist fast so bleich und fahl als die Leinwand, die durch ihre schlanken, emsigen Finger gleitet. Nur in der Mitte der Wangen glühen ihr zwei purpurne Fieberflecken, die unheimlichen Verräther eines verborgenen Wurmes, der ihr im Stillen am Lebenskeime nagt, und vielleicht schon vor der Wiederkehr der ersten Schwalben sein trauriges Werk vollendet haben wird. In dem Stübchen des armen Kindes ist es bitter kalt. … Wohl steht in der Ecke am Fenster ein kleiner eiserner Ofen, wie man ihn beim Trödler für zwei Franken kauft; aber es ist lange her, seit die letzte Kohle auf seinem Roste in Rauch aufgegangen ist. Mélanie sucht diesen Mangel durch ein wollenes Fichu zu ersetzen, das sie in festester Schlingung über Rücken und Brust gezogen hat, – ein kärgliches Hülfsmittel bei zwei Grad Kälte. Auch der Bettteppich, der sich über ihre Kniee breitet, vermag sie nicht gegen die Unbilden der winterlichen Witterung zu schützen. Jetzt schauert sie krampfhaft zusammen und läßt die Hände in den Schooß sinken. Draußen aber verdoppelt der Sturm sein Zischen und Heulen, als freue er sich darüber, daß die dünnen Wände der Mansarde nicht im Stande sind, seinem eisigen Hauche Halt zu gebieten.

Es schlägt ein Viertel auf Sieben. Mélanie legt die Arbeit bei Seite und erhebt sich. Ein heftiger Hustenanfall treibt ihr das Blut in die Schläfe. Sie nimmt die Bettdecke auf und legt sich die derbe Hülle um Nacken und Schultern. Dann reibt sie sich die erstarrten Finger, die bereits nah daran waren, ihr den Dienst zu versagen … Sie tritt an das Tischchen, auf dem die Lampe steht, und sucht die bläulichen Gelenke an dem heißen Cylinder zu erwärmen. Ein schmerzliches Lächeln gleitet über ihre Lippen.

„Es ist Essenszeit,“ murmelte sie vor sich hin. „Ich will für mein Diner sorgen.“ …

Sie geht zu der rohgezimmerten Commode, die mit dem Tische, dem Stuhle und dem Bette das ganze Meublement der engen, kalkbeworfenen Kammer ausmacht, und zieht eine Schublade heraus. Dann rückt sie den Stuhl an das Fenster, blickt hinaus in die kalte, sternenklare Nacht, – und dinirt. Ihre Mahlzeit besteht aus einem Zwei-Sous-Brod und einigen Körnern Salz. Nicht ohne eine gewisse Gier verschlingt sie die hastig abgebrochenen Stücke der ausgetrockneten Semmel, – denn seit früh um Elf hat sie gehungert. Ihr Frühstück war freilich ein wenig reichlicher. Sie hatte einen Napf voll Milchkaffee und zwei Brode; aber sieben volle Stunden sind eine lange Frist, zumal in einer kalten Mansarde und bei angestrengter Arbeit.

Mélanie näht Hemden für ein großes Weißwaarengeschäft in der Rue de la Chaussée d’Antin. Das Magazin hat einen täglichen Umsatz von sechs- bis siebentausend Franken. Der glückliche Inhaber hält Kaleschen, Landauer, Tilburys und Phaetons in überraschendster Auswahl; seine Lakaien und Grooms wetteifern mit den elegantesten Domestiken des Faubourg St. Germain. In den Kreisen des Sport spielt Monsieur Telettel eine hervorragende Rolle, obgleich ein Weißwaarengeschäft eigentlich nicht so ganz Chic ist, aber sechs- bis siebentausend Franken täglichen Umsatzes lassen Fünf gerade sein, und lehren ein Auge zudrücken. Monsieur Telettel besitzt vier vorzügliche Renner, von denen der schlechteste seine vierzigtausend Franken werth ist. Er rechnet fest darauf, demnächst in Longchamps einen glänzenden „hippischen Erfolg“ (succès hippique) zu erringen. Kurz, der „Patron“ des Magazins ist ein Mann comme il faut, – allein er bezahlt für die Anfertigung seiner Waaren einen beklagenswerth niedrigen Preis. Er lebt ganz und gar von weiblichen Händen, und die Arbeiterin darf in Paris, wie anderwärts, ungestraft als Sclavin betrachtet werden. Eben darum rentirt sich ja das Weißwaarengeschäft so „admirablement“; eben darum ist ja Monsieur Telettel in der angenehmen Lage, bei Gelegenheit eines fashionablen Pferderennens zwanzigtausend Franken zu verwetten, ohne den verlornen Napoleons nachseufzen zu müssen.

Mélanie erhält für die Verfertigung eines Hemdes durchschnittlich fünfundsiebenzig Centimen (sechs Silbergroschen). Mit der größten Anstrengung, wenn sie die Hälfte der Nacht noch zu Hülfe nimmt, vermag sie täglich etwas mehr als einen Franken zu verdienen. Dafür muß sie wohnen, essen und trinken, – und sich kleiden, und zwar anständig kleiden, denn „zerlumptes Gesindel“ kann Monsieur Telettel nicht ausstehen. Er „liebt“ es, wenn „seine Arbeiterinnen“ die Ehre des Hauses wahren, das heißt, er weist ihnen die Thür, wenn ihre Toilette in irgend einer Beziehung zu wünschen übrig läßt. Wie die armen Kinder mit der Erfüllung dieses väterlichen Gebotes zu Stande kommen – das ist ihre Sache!

Mélanie hat seit einem Jahre – so lange arbeitet sie für das Weißwaarengeschäft der Rue de la Chaussée d’Antin – ein tägliches Deficit von durchschnittlich fünfundsiebenzig Centimes zu verzeichnen. Gestern ist der letzte Gegenstand von Werth, über den sie verfügte, ein kleines goldnes Kreuz, das ihr die Mutter auf dem Sterbebette in die Hand drückte, zum Schacherjuden gewandert. Die fünf Franken, die sie dafür erlöste, reichten gerade hin, den unbarmherzigen Hauswirth zu befriedigen, der unter unzweideutigen Drohungen den Betrag der Miethe verlangte. Jetzt besitzt sie Nichts mehr, absolut Nichts mehr, als das spärliche Gewand, das sie auf dem Leibe trägt, und den sorgfältig zusammengefalteten Anzug, den die zweite Schublade der Commode birgt. Die zwölf Monate ihrer Thätigkeit für Monsieur Telettel haben Alles, Alles verschlungen. …

Mélanie hat Das, was sie mit furchtbarer Selbstironie ihr Diner nannte, beendigt. Sie tritt langsam an’s Fenster und blickt hinaus in die finstere, stürmische Nacht. Dumpf und schaurig tönt das Rauschen des Stromes zu ihr herauf. Sie läßt das Kinn schwer auf die Brust sinken und faltet die Hände. Eine volle, brennende Thräne rollt über ihre abgehärmten Wangen; um die schmalen Lippen zuckt und flattert es wie von tausend qualvollen Empfindungen. … Sie gedenkt ihrer glücklichen Kinderzeit! Noch vor drei Jahren schlug ihr Herz frisch und fröhlich einer rosig ausgemalten Zukunft entgegen. Ach, wer ihr damals gesagt hätte, daß Alles so ganz anders kommen würde! … Ihre Thränen fließen reichlicher. … Sie preßt die fiebernde Stirn wider die eisigen Scheiben und schluchzt lauter und wilder. Dann wird sie mit einem Male ruhig. … Es überkommt sie wie eine wohlthuende Erstarrung. … Vor ihrem inneren Auge aber gleiten die Bilder des Einst in immer klareren und freundlicheren Umrissen vorüber,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_742.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)