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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Hoftheaters aufgeben müssen, weil, wie es heißt, er sich nicht allen Launen fügen, sondern seinen Kopf behaupten wollte. Und das wollte er denn in der That auch stets und meist mit gutem Grunde. Meister Heinz hatte feste, bestimmte Anschauungen und Grundsätze, für die er tapfer und so zu sagen auf Tod und Leben einstand. Nachgeben, sich finden, accommodiren, wie man sich auszudrücken pflegt, war seine Art nicht. Man hat Marr vielfach als lieblos und ohne Gemüth geschildert, von ihm gemeint, er besäße kein Herz. Wer so über ihn urtheilt, hat ihn nicht gekannt. Meister Heinz war wie jedes echte Künstlerwesen fein besaitet und dem wahren Gefühl zugänglich, aber zugleich auch eine strenge Natur, der die Sache höher stand, als die Person. Wo es die Sache galt, da verschwand ihm der Mensch. Ich kenne keinen Schauspieler, mit dem ich so viel über Kunst gesprochen hätte, wie mit Marr, ohne dabei auf die Namen und die Interessen der Leute zu kommen.

Wir haben so manche Stunde im angeregtesten Verkehr zugebracht. Jede Unterhaltung mit ihm war nützlich und lehrreich; noch auf seinem Sterbebett habe ich das empfunden. Marr wünschte nichts so sehr, als die letzten Jahre seines Lebens als Director einer schauspielerischen Bildungsschule oder eines Hoftheaters verleben zu können, wo er nicht genöthigt sei, aus der Kunst eine milchende Kuh zu machen.


Heinrich Marr.


Er wollte seine gesammelten Erfahrungen, Anschauungen und Grundsätze noch einmal möglichst rein und voll zur Anwendung gebracht sehen. Als er im Anfang der sechsziger Jahre auf dem Hoftheater in Dresden gastirte, war viel die Rede davon, ihn dort zum technischen Director zu machen. Nur sein vorgerücktes Alter war schließlich die Ursache, daß man den Plan wieder fahren ließ. Nicht anders ist es mit ähnlichen Ideen in München gegangen. In Stuttgart wäre er gleichfalls gern als künstlerischer Leiter der Hofbühne angestellt gewesen, als aber endlich ich dafür berufen wurde, entfaltete Marr einen so uneigennützigen Eifer, mir mit Rath und That zur Hand zu gehen, daß ich mich ihm immer im tiefsten Herzen dafür verpflichtet fühlen werde. Der alte Freund hat mir manchen langen und eingehenden Brief geschrieben, um mir wegen eines Ersatzes für Grunert, wegen Rollenbesetzung und Repertoire seine Meinung mitzutheilen. Er hegte zu Anfang meiner dramaturgischen Leitung Besorgniß, ich würde in meinem ganzen Verfahren zu literarisch bleiben. Noch unter dem 20. Januar 1871 ließ er sich wie folgt vernehmen:

„Ich bleibe dabei: das alte Repertoire allein kann als Bildungsschule für Schauspieler dienen. Zuerst müssen die jungen Bursche lernen Menschen darstellen, Menschen in ihrer natürlichen Einfachheit und Wahrheit; wenn poetisches Element vorhanden, werden sie dies späterhin um so bedeutender zur Geltung bringen, weil sie auf Grundlage des Realen wandeln und nicht Gefahr laufen, das Ideale in unnatürliche Fratze zu verkehren.“

„Pardon! Aber der alte Komödiantenschulmeister kann das Dociren nicht lassen. Leider wird heutigen Tages nicht viel damit gewonnen, denn – der Schulmeister darf ja nicht den Bakel schwingen. Ach, und wie heilsam könnte dieser oft wirken, denn die verfluchte Libertinage beim Theater richtet so manches Talent zu Grunde.“

„So, nun bin ich schon still, lieber Fedor. Sie sehen, ich habe meine Ihnen bekannte Polterei auf ein bescheidenes Duodezmaß beschränkt. Möge Ihnen und Ihrem sanfteren Wesen gelingen, so gute Resultate zu erzielen, daß Sie Ihr Streben belohnt sehen.“

„Ihre Thätigkeit, welche sich in Vorführung der neueren und auch älteren bedeutenden Werke kundgiebt, ist anerkennenswerth, aber – verstehen Sie mich recht, es ist ein mehr literarisches als schauspielerisches Streben. Finden Sie, daß Ihre Schauspieler auf diesem Wege an künstlerischer Bedeutung gewinnen, dann haben natürlich auch Sie nach beiden Richtungen hin gewonnen.“

„Ich hätte gern eine Vorstellung der ‚Miß Sara Sampson‘ gesehen, um mich von den Darstellungsfähigkeiten zu überzeugen. Wahrscheinlich war der Eindruck mächtig, ich hoffe es und hoffe, daß nicht allein die Dichtung diese Macht ausübte, sonst wäre die Wirkung doch nicht nachhaltig und die Vorführung des Stückes bliebe dann nur ein literarisches Experiment.“

Diese briefliche Auslassung mag und kann beweisen, wie zartfühlend und schonend der schroffe und polternde Meister Heinz sich auszusprechen vermochte, wo er zwar seine Meinung sagen, aber nicht verletzen wollte.

Praktiker, Kenner des Theaters, wie er es war, beunruhigte ihn zunächst das alte Vorurtheil, wonach ein Schriftsteller nun einmal nie ein die Gewohnheiten des Publicums und die Bedürfnisse der Casse befriedigender Director werden können soll. Er fürchtete, ich würde mich in literarische Bühnen-Experimente verrennen, und beruhigte sich erst, als er sah, daß ich dergleichen nur dann und wann vornahm, nur älteren Dichtern und bevorzugten Begabungen an unserer Bühne Rechnung zu tragen. Daher sein Bedenken und sein Interesse für Lessing ’s „Miß Sara Sampson“.

Ein zweiter Punkt des Zwiespalts zwischen uns war die Ausbildung junger schauspielerischer Begabungen. Der dramatische Altmeister behauptete, wie ja auch zur Genüge aus der angeführten Briefstelle hervorgeht, daß der Jünger der Bühne, ehe er Rhetorik und Declamation lernt, lerne Menschen darzustellen. Ich bin der Ansicht, daß diese Darstellung der Gipfel, so zu sagen die Krönung der Schauspielkunst und somit die Vollendung derselben ist. Sie ist das Schwerste, aber auch Höchste und Letzte der Kunst. Die Kunst des Vortrags, die wahre, echte Kunst des Vortrags ist zwar auch nicht leicht, aber minder schwierig zu erreichen. Begeisterung, Schwung, ein volles Herz und ein lebhafter Geist können hier schon viel erlangen, und da man diese Eigenschaften doch mehrentheils immer bei der Jugend trifft, so habe ich dafür gehalten, daß man junge Schauspieler zunächst darin bilden soll, mit einem Wort: ich habe geglaubt und glaube noch heute, Anfänger in declamatorischen Rollen zuerst beschäftigen und vor das Publicum hinausstellen zu dürfen und erst langsam und nach und nach zu solchen Aufgaben hinüberführen zu müssen, die mehr von natürlicher Wahrheit und Wirklichkeit an sich haben, kurz, ich will aus dem Idealismus in den Realismus und in dem Letzteren noch so viel von dem Ersteren bewahren, als die Schönheit der Kunst dies zur Bedingung macht. Marr wollte das auch, aber auf umgekehrte Weise: er verlangte die realistische Schule und dieser zur Zierde einen gewissen idealen Hauch, welcher, nach seinem Dafürhalten, sich schon im Wesen der Kunst selbst bedinge und erzeuge.

So hat er verfahren, meiner Verfahrungsweise entgegengesetzt, und sicher ist, daß er vorzügliche Resultate erzielt. Er hat nicht nur gute Schauspieler, er hat Künstler gebildet, und dieses Bilden habe ich mehrfach Gelegenheit gehabt unter meinen Augen vor sich gehen zu sehen. Es war ganz eigenthümlicher Art. Marr gab eigentlich seinen Unterricht nur auf Proben und dann sehr heftig und dicatorisch. Er fuhr die Darsteller an und hunzte sie tüchtig herunter, wenn sie etwas boten, was er nicht gelten ließ. Zehn Mal ließ er einen Auftritt probiren, der nicht klappte, zehn Mal rief er einem Mitgliede an derselben Stelle sein Veto zu. Er schonte nie, ersparte keine Beschämung, und doch war er stets der Abgott aller strebenden Jünger.

Woher kam das?

Ganz einfach daher, daß der junge Schauspieler überall empfand, wie Marr sein „Metier“ bis auf’s Kleinste hinab verstand, ihn mit kurzen Winken und Fingerzeigen auf den rechten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 737. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_737.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)