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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

zurück. Es ist möglich, daß ich mich irre, aber ich habe diesen Eindruck. Ein gewisses „Müdesein der Macht“ scheint neben all seinen Machtbestrebungen wie ein Schatten herzugehen. Eine spätere Zeit wird Aufschluß über die Gesammtheit seiner politisch-literarischen Thätigkeit während der Tage auf Wilhelmshöhe, ganz besonders über seine Correspondenz innerhalb des genannten Zeitabschnittes geben; bis zu dieser Stunde ist nur Einzelnes davon in die Oeffentlichkeit gedrungen: Erstens ein Brief, datirt Wilhelmshöhe, 26. September, den er nach Abbruch der Verhandlungen zwischen Graf Bismarck und Jules Favre, mit der Mahnung, Versöhnlichkeit walten zu lassen, in das Preußische Hauptquartier schickte. Die Echtheit dieses Briefes ist nicht bestritten worden, sonst würde ich, seinem Inhalte nach, dieselbe bezweifeln. Zweitens eine Proclamation an das französische Volk, datirt Wilhelmshöhe, 4. Februar, worin er sich, bevor nicht eine neue Volksabstimmung stattgefunden, als den wahrhaften Repräsentanten der Nation proclamirt; endlich drittens eine über die preußische Wehrverfassung abgefaßte Brochüre (Wilhelmshöhe im Februar 1871) die den Titel führt: „Note sur l’organisation militaire de la confédération de l’Allemagne du Nord.“ Er tritt in dieser höchst interessanten Schrift ganz für die Preußische Wehrverfassung ein, von der er an einer Stelle die höchst beherzigenswerthen Worte sagt: „Die Armee in Preußen ist eine Schule, in der ein Jeder, der Reihe nach, das Kriegshandwerk lernt und in dem Gefühl der Pflicht erstarkt. Der junge Mann, der zu den Fahnen einberufen ist, lernt nicht nur exerciren, man lehrt ihn auch die Treue zum König, die Ergebenheit für das Vaterland. Eine Armee, die nicht aus Söldnern, sondern aus der Elite der Nation besteht und auf dem Princip der Autorität beruht, das mit den Rechten des Bürgers nicht im Widerspruch steht, eine solche Armee ist der Schutz für die Festigkeit eines Staates.“

Besuche trafen nicht eben zahlreich in Schloß Wilhelmshöhe ein; der immerhin erschwerte Verkehr, vielleicht auch der ausgesprochene Wunsch des Kaisers, der sich von der Mehrzahl dieser Besuche wenig versprechen mochte, hielten davon ab. Das einzige große Besuchsereigniß war das schon erwähnte Eintreffen der Kaiserin. Sie blieb nur vierundzwanzig Stunden. Was zu dieser Reise führte (die Capitulationsfrage von Metz war wohl die erste Veranlassung gewesen), ist noch nicht aufgeklärt.

Ein einziges Mal während einer Zeit von mehr als sechs Monaten verließ der Kaiser die unmittelbare Umgebung des Schlosses und fuhr nach Kassel, um einer Theatervorstellung beizuwohnen. Es war ersichtlich, daß er es aus Courtoisie gegen eine Bevölkerung that, innerhalb welcher er sechs Monate lang ein unfreiwilliger Gast gewesen war und deren verzeihliche Neugier er wenigstens einmal glaubte befriedigen zu müssen, – um so mehr als man sich, bei gelegentlichen Begegnungen in Wilhelmshöhe selbst, jederzeit rücksichtsvoll gegen ihn benommen hatte. Nur ein einziger Ausnahmefall ist festgestellt: ein siebenzehnjähriger Heißsporn hatte sich eingefunden, um als zurückgebliebener Oberquartaner, aber fortgeschrittener Patriot „Deutschland von seiner Geißel zu befreien“. Dieser Brave war aber kein Kasselaner, sondern natürlich ein Berliner.

Am 19. März, nach einer Gefangenschaft von beinahe genau sechs und einem halben Monat, verließ der Kaiser Wilhelmshöhe; bis zuletzt wurden ihm alle einem Souverain zukommenden Ehren erwiesen; zwei Compagnien Dreiundachtziger bildeten bei seiner Abreise Spalier, General Graf Monts begleitete den Kaiser bis zur belgischen Grenze.

Er hatte sich, nach der gewinnenden Art, die ihm eigen, auch hier, auf Wilhelmshöhe, manches Herz zu erobern, manche Theilnahme zu wecken gewußt; nur das Herz meiner schönen Führerin schlug ihm nicht entgegen. Davon ausgehend, daß die Gefühlswelt der jungen Dame schwerlich etwas Anderes sein werde, als das Echo der allgemeinen Haus- und Schloßstimme, hatten ihre Anschauungen einen gewissen Werth für mich. Freilich nur einen gewissen. Es war nämlich ersichtlich, daß man sich ,,mehr von ihm versprochen hatte“. Da lag es. Ein Ausgleich durch persönliche Liebenswürdigkeit, sobald dieser Punkt überhaupt erst mitklingt, ist fast immer unmöglich. Ja, man kann sagen, jede Liebenswürdigkeit, die prätendirt an Zahlungsstatt angenommen zu werden, hat ganz besondern Widerwillen zu überwinden.

Ich empfahl mich mit dem guten Gewissen, diese Form der Abneigung nicht herausgefordert zu haben, und schritt in Front des Schlosses auf einen freien Platz zu, der mir nochmals einen Ueberblick über das Ganze gestatten sollte. Im Hintergrunde ragte im grauen Gewölk die Löwenburg auf, im Vordergrunde leuchteten freundlich die weißen Wände des Hôtel Schombart. Ich schwankte einen Augenblick zwischen der Keule des Hercules dort oben und einer muthmaßlichen Rehkeule hier unten. Aber die Tage der Allerweltsseherei, vor Allem der Steigerei und Kletterei lagen zu lange hinter mir, als daß der Kampf anders als ein kurzer hätte sein können.

Anderthalb Stunden später schritt ich wieder auf Kassel zu, nur durchdrungen von dem einen Gefühl, daß es doch ein rechter Treffer für den Kaiser Napoleon gewesen sei, an einem so angenehmen Ort und so zu sagen Arm in Arm mit „Onkel Schombart“ sechs Monate lang durchs Leben pilgern zu können.




Die Rochows auf Rekahn.
Zur Armee- und Schulgeschichte in Preußen.

Es sind gerade hundertunddreißig Jahre, da war, trotz des weltberühmten „Kammergerichts in Berlin“, im zweiten Regierungsjahre des damals noch jungen „alten Fritz“ ein Gewaltact möglich, der seitdem im Staate Preußen nicht mehr seines Gleichen gefunden hat.

Die preußische Armee zieht in der Gegenwart die Blicke der Theilnahme und Bewunderung in einem Maße auf sich, daß man das Thun und Treiben im Entwickelungsgang derselben mit eben dem Interesse bis in die Jugendzeit verfolgt, wie bei einer denkwürdigen Person, bei welcher man ebenfalls gern zurückgeht bis auf die Flegeljahre. Ferner haben die jüngsten großen Kriege Preußens ein paar Zweige ihres Lorbeerkranzes auf die Volksschule fallen lassen, man hat eine Verwandtschaft des Bakels mit dem Feldmarschallsstab herausgefunden. Und da nun auf der Stätte jenes „Straf-Lagers“ eine Musterschule für das preußische Volk entstand, so werden unsere Leser es nicht für unzeitgemäß erklären, wenn wir diese militärischen und pädagogischen Seltsamkeiten aus vergilbten Blättern hervorholen und wieder auf weiße bringen.

Der königlich preußische Staatsminister Friedrich Wilhelm v. Rochow war früher Präsident der Kriegs- und Domainenkammern der westfälischen Länder des Königs gewesen. Als solcher soll er sich gewissen unrechtmäßigen Verfügungen und Handlungen von Personen widersetzt haben, welche mit dem Hofwind zu segeln verstanden. Außerdem war auf dem eigenen Stammbaum derer von Rochow ein Generallieutenant v. Rochow zu Gölzig verzeichnet, der mit Jenem wegen des „Havelbruchs“ in Feindschaft lebte und dazu einen Schwiegervater besaß, einen Feldmarschall v. Katt, der auf die Wahl des Orts, wo das Lager, von dem wir nun erzählen werden, aufgeschlagen werden sollte, nicht ohne Einfluß sein konnte. Diese genealogischen Andeutungen tragen jedenfalls zur Erklärlichkeit des Vorgangs bei.

Als König Friedrich der Zweite im December 1740 den ersten schlesischen Krieg eröffnete, hielt er es für nothwendig, zur Deckung seiner Länder im ober- und niedersächsischen Kreise eine Armee in der Gegend von Brandenburg in einem Feldlager aufzustellen. Die Truppenmasse sollte aus fünfunddreißig Bataillonen Infanterie und zweiundvierzig Escadrons Reiterei mit der nöthigen Artillerie und sonstigem militärischen Zubehör bestehen. – Nun dehnten sich südlich von Brandenburg die Besitzungen des damaligen Staatsministers Friedrich Wilhelm v. Rochow aus und umschlossen die Güter und Dorfschaften Rekahn (seit neunhundert Jahren der Sitz der Familie), Krahne, Gettin, Rotscherlinde und Mesdunk. Das Flüßchen Plane, ihm zur Linken die Temnitz und andere Bäche, bewässerten die von einzelnen Gehölzgruppen unterbrochenen weiten waldigen Auen; zur Linken der Temnitz aber zog sich bis zur krummen Havel hinauf ein wohlgepflegter starker Kiefernwald, der zur Anziehung der Regenwolken beitrug, den Flugsand von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_721.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)