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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


äußersten Terminen hin, verschlossen bleiben, und zu diesen Städten (neben Braunschweig und Hannover) hatte durch zwanzig Jahre hin, wo ich fast jahraus jahrein an ihnen vorüberflog, auch Kassel gehört. Ich war also, indem ich Wilhelmshöhe besuchte, zugleich in der angenehmen Lage, eine alte Schuld gegen die weiland kurhessische Hauptstadt abtragen zu können.

Im Großen und Ganzen – alle Kasselaner mögen es mir verzeihen – hat mich ihre vielgerühmte Haupt- und Residenzstadt enttäuscht, was eine Bewunderung im Einzelnen, wie dieses kurze Capitel zur Genüge erweisen wird, nicht im Geringsten ausschließt. Ich werde meine Gegner, die mich nach diesem Ausspruch zunächst im Verdacht des Borussismus und der Berlinerei haben werden, am besten dadurch entwaffnen, daß ich ihnen erkläre: Kassel gehört unter die Potsdame der Weltgeschichte. Das Wesen dieser Potsdame – wobei ich Potsdam als alten überkommenen Begriff, nicht als etwas tatsächlich noch Vorhandenes fasse – das Wesen dieser Potsdame, sage ich, besteht in einer unheilvollen Verquickung oder auch Nichtverquickung von Absolutismus, Militarismus und Spießbürgerthum. Ein Zug von Unfreiheit, von Gemachtem und Geschraubtem, namentlich auch von künstlich Hinaufgeschraubtem, geht durch das Ganze und bedrückt jede Seele, die mehr das Bedürfniß hat, frei aufzuathmen, als Front zu machen. Front zu machen. Ja, dies ist das Eigentlichste! Ein gewisses Drängen herrscht in diesen der Zeit Louis des Vierzehnten entsprungenen oder nach ihr gemodelten Städten vor, in die erste Reihe zu kommen, gesehen, vielleicht gegrüßt zu werden, Hoch und Niedrig nehmen gleichmäßig daran Theil und bringen sich dadurch, während der Hochmuth wächst, mit um das Beste, was der Mensch hat: das Gefühl seiner selbst. Es kann keinen wärmeren Lobsprecher des richtig aufgefaßten „Ich dien’“ geben, als mich; es ist ein Charaktervorzug, gehorchen zu können, und ein Herzensvorzug, loyal zu sein, aber man muß zu dienen und zu gehorchen wissen in Freiheit. Man hat von den Berlinern gesagt, sie hätten alle „einen kleinen Alten Fritz im Leibe“ – beiläufig das Schmeichelhafteste, was je über sie gesagt worden ist –; so kann man von vielen Klein-Residenzlern sagen: sie tragen den Hofmarschall v. Kalb irgendwie oder irgendwo mit sich herum.

So viel über die Menschen. Aber es bleibt nicht bei diesen. Wie immer, so modelt sich auch hier die Schale nach dem Kern, der Geist schafft sich den entsprechenden Leib; die Wohnung, die Architektur der Stadt empfängt ihren Stempel nach dem, was darin zu Hause ist. Alles freie, individuelle Schaffen und Gestalten hört auf; die fürstliche Laune, der sich der Hofbaumeister bequemt, läßt überall Straßen für pensionirte Kammerdiener, im günstigsten Falle Schnörkelvillen für alte (oder auch für junge) Hofdamen entstehen, und so erwächst denn jenes steife, parademäßige, mitunter hypersplendide, meist aber kärglich abgeknapste Bauwesen, das langweilt, halb trübselig, halb komisch stimmt und die recht eigentliche Kehrseite bildet von den Giebelhäusern, den „Rolands“, den Gürzenichs, den Werften und Schiffen der freien Städte.

Es ist kein Zweifel, daß sich Kassel mehr und mehr in die Danzige und Lübecks hinein- und aus den Potsdams herauswachsen wird. Die Anfänge dazu sind unverkennbar gemacht. Je mehr dies geschieht, desto schöner wird die Stadt werden, für welche die Natur so viel gethan.

Wie viel sie gethan, dessen wird man am besten ansichtig vom Au-Thor und der Bellevuestraße aus, von deren terrassenförmiger Höhe man eine prächtig-schön zu Füßen gelegene Wiesen-Insel überblickt. An dieser Stelle concentrirt sich die Schönheit der Stadt. Den Blick drüben auf die abschließenden Berge richtend, hat man den Au-Park tief unten vor sich, den Friedrichs-Platz in gleicher Höhe mit dem Stadt-Plateau hinter sich. Park wie Platz haben einen Ueberfluß von Palästen, die herzuzählen bei ihrem auch architektonischen Reponirtsein nicht mehr verlohnen würde. Was hat die Welt davon, die Façade der Fürstin von Hanau, will sagen ihres Palastes noch fernerhin beschrieben zu sehen?

Habeat sibi!

Aber in eines dieser Schlösser, unten im Au-Park, in ein halb verschlossenes, überall angebröckeltes Rococo-Pavillon-Schloß, in dieses führ’ ich die Leser dennoch, unbekümmert darum, ob sie es kennen oder nicht, – in das vielberühmte Marmorbad, jene Schöpfung Peter Monnot’s (geboren 1658 zu Besançon, gestorben 1733 zu Rom), die architektonisch eine Null ist, aber ihrem Sculpturen-Inhalt nach zu dem Entzückendsten zählt, das man sehen kann. Von Allem, dem ich in Nord-Europa begegnet bin, geht nur das Kopenhagener „Thorwaldsen-Museum“ durch Fülle, Adel und Reinheit der Erscheinung darüber hinaus. An Grazie, Heiterkeit und technischer Vollendung muß es sich damit begnügen, diesem Marmorbade ebenbürtig zu sein. Je mehr ich davon ausgehen darf, daß ich über allgemein Bekanntes spreche, daß Bacchus und Bacchantin, Apoll und Minerva – der großen Reliefs zu geschweigen, die ganz nach Art historischer Bilder wirken – längst zu den Sinnen der Mehrzahl meiner Leser gesprochen haben, desto mehr kann ich mich darauf beschränken, hier ein Urtheil oder, wenn dies zu viel gesagt ist, ein Sentiment abzugeben.

Diese Dinge sind und bleiben allerersten Ranges. Es hilft nichts, von philiströs vorgefaßten Standpunkten, will sagen, von der eitlen Annahme aus, daß der jeweilig herrschende Geschmack der einzig richtige, der aufgeklärte, der keusche, der geläuterte sei, ich sage, es hilft nichts, von solchen vorgefaßten Standpunkten aus diese Dinge blos bedingungsweis, blos mit Vorbehalt oder wohl gar mit einem herablassenden „i, nun ja“ anerkennen zu wollen. Sie sind, wie sie da sind, ersten Ranges, und keine Cliquerei und Schulfuchserei wird sie um ihren vollen und ganzen Ruhm bringen können. Die Welt hat auch nach dieser Seite hin die Phrasen satt und läßt sich mit „Reinheit des Stils“, worunter zuletzt der Eine dies, der Andere das versteht, nicht länger gängeln. Je selbstständiger das künstlerische Empfinden wird, je mehr der Einzelne den Muth ausbildet, individuelle Ansprüche zu erheben und, unbekümmert um das Fühlen eines Zweiten oder Dritten, sein Fühlen, seine Hinneigungen, ja selbst seine Launen (denn auch die wurzeln in seinem Innersten) zu befragen, je mehr wir die infallible Dogmenwirthschaft auch in der Kunst los werden, desto höher werden diese Monnot’schen Arbeiten wieder steigen, denn es giebt berechtigte Tausende, die gerade dies sehen wollen und denen man seither mit der spießbürgerlichen Versicherung, „es sei nicht keusch genug“ oder „es widerspreche dem Marmor“, einfach einen Theil ihrer Freude verdorben hat.




Der Nachmittag blieb mir für Wilhelmshöhe. Ich benutzte die Eisenbahn, die hier eine Station hat, und stand bald nach drei Uhr in jener Avenue, die zu dem berühmten Kurfürstenschlosse hinaufführt. War je ein Ruhm verdient, so ist es dieser; es ist Alles ersten Ranges. Man versteht hier völlig den scherzhaften Ausspruch eines hohen Herrn, der, hier auf der Terrasse stehend, in gewohnter guter Laune seinem kurfürstlichen Vetter proponirte: „Gieb mir Wilhelmshöhe und ich baue Dir ein Serail am goldenen Horn.“ Er lehnte ab. Weder der, der diese Worte sprach, noch der, an den sie gerichtet waren, hatte eine Ahnung davon, daß ein Wechsel der Herrschaft und zwar ohne Aequivalent, so nah in der Zeiten Schooße lag.

Dieser Wechsel der Herrschaft hat sich vollzogen, aber – eine einzige kleine Stelle abgerechnet – ist nichts da, woran sich dieser Wechsel erkennen ließe. Diese einzige kleine Stelle ist das Portierhaus unter am Park. Hier, von der Mehrzahl kommenden und gehenden Besuches sicherlich übersehen, befindet sich, hart an der Ecke des Hauses, zwei Hand breit unter dem Dache, jene bekannte weiße Tafel, auf der es heißt: „Schloß Wilhelmshöhe, Landkreis Kassel, Regierungsbezirk Kassel, 1. Bataillon 1. hessischen Landwehr-Regiments Nr. 81“. Ach, wo diese Tafeln stehen, da ist Kattenthum und Welfenthum von den Tafeln der Geschichte gewischt, und wer in der Geschichte mehr sieht als einen Witz des Zufalls, dem steht es fest: sie sind getilgt auf Nimmerwiederkehr.

Ich stieg nun links die Biegung des Weges hinan, meldete mich in einem Parterrezimmer des Schlosses beim Castellan und sah alsbald eine hübsche junge Dame, groß, mit tiefdunklen Augen, erscheinen, die mir ihre Bereitwilligkeit erklärte, mich durch die „Napoleon-Zimmer“ des Schlosses zu führen. Ich bemerke dabei gleich hier, daß die vertrauensvolle Unbefangenheit, mit der die junge Dame mir ihre Führerdienste zur Verfügung stellte, noch dazu in Räumen, die doch weder durch die alten Kurfürsten, noch durch Jerome, noch durch Napoleon den Dritten zu einem Vestatempel gestempelt sein konnten, im ersten Moment etwas geradezu Beschämendes für mich hatte, bis ich später durch ein dann und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 719. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_719.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)