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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 43.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Erdmann und das Stubenmädchen trugen eben eine Korbwanne voll Eßgeschirr die Treppe hinab, als ich hinaufstieg. Noch stand die Thür des Speisesalons weit offen. War Herr Claudius noch in Charlottens Zimmer, so konnte ich mich ihm vielleicht durch die offene Thür bemerklich machen, ohne daß die Anderen es sahen, denn Zeugen mochte ich nicht haben bei meiner Bitte.

Ich wollte eben das nächste Zimmer betreten, da schlugen zwei prachtvolle Menschenstimmen an mein Ohr – wie festgewurzelt blieb ich stehen, obgleich mir der Boden unter den Füßen brannte und die Angst um jede verlorene Minute mein Herz heftig klopfen machte.

„O säh’ ich auf der Haide dort
Im Sturme dich!
Mit meinem Mantel vor dem Sturm
Beschützt’ ich dich –“

sangen Charlotte und Helldorf. Ich sah schräg durch die Thüröffnung die zwei prächtigen Gestalten nebeneinander stehen, während Dagobert am Flügel saß und den Gesang begleitete.

O, meine Haide im Sturm, im Frühlingssturm! Wenn er über den Dierkhof hinfuhr, die trotzigen, alten Eckpfeiler wegzustoßen und die Fensterscheiben einzudrücken versuchte, wenn er den Eichen die vorjährige, ehrwürdig vertrocknete Blätterperrücke abriß und sie in tausend Atome zerpflückte, wenn Ilse vorsorglich alle Thüren schloß und die Hühner aus dem weiten, unbeschützten Hof auf ihre Querstangen in der Tenne flüchteten, da lief ich hinaus vor die Umzäunung und schrie das vorüberbrausende Heer in den Lüften an. … Es war ja kein Sturm, wie der im Winter! Es waren tausend und abertausend Stimmen, die ausgeschlafen hatten, und nun in einander jubilirten! Da brauste das Wasser drin, das sich vom Eis erlöst hatte, da rauschte der Wald hinein, in dem das aufquellende Leben stürmisch pulsirte, da klang schon jedes Blumenglöckchen mit, das sich aus der braunen Hülle schälen sollte. … Und ich ließ mich von seinen Händen greifen und forttragen – Ruck um Ruck ging es über die Haide hin, taumelnd wie ein fortgewirbeltes Eichenblatt, bis ich auf dem Hügel stand und halb erschrocken, halb aufjauchzend meine Arme um die Föhre schlang. Wir zitterten und schwankten beide, die alte Föhre und mein kleiner Körper, aber sie rasselte lustig mit ihren Nadeln, und ich lachte hinauf in die großen, dicken Wolken, die mit zuckenden Gliedern hülflos weiterstürmen mußten. Es riß und zerrte an meinem Röckchen, und das Haar zerpeitschte mir das Gesicht – aber ich brauchte „keinen Mantel, der mich beschützte“ – es war etwas von Stahl und Eisen in meinen gescholtenen Kinderhänden und -Füßen; ich kämpfte mich tapfer wieder heim und schalt Spitz, der sich unterdessen faul seinen Pelz in der sichern Ofenecke gewärmt hätte.

„Und käm’ mit seinem Sturme je
Dir Unglück nah –“

sangen sie drinnen, und die Stimmen stiegen aufwärts, wie der Sturm auffliegt und im vollen Ausbrausen gipfelt. Ich war wie berauscht von den Tönen; allein ich durfte mich dem Zauber nicht länger hingeben – fort mit dem Heimweh und seinen schmerzlich süßen Träumen! … Ich sah meinen Vater aufgeregt in der Bibliothek hin- und herlaufen, und das trieb mich sofort über die Schwelle.

Da saß seitwärts, tief in die Ecke des Zimmers gedrückt, Herr Claudius, ganz allein. Er hatte den Ellenbogen auf die Seitenlehne des Fauteuils gestützt und vergrub Stirn und Augen tief in der Hand. Das dicke blonde Lockengeringel fiel über die weißen Finger – ich wich beklommen zurück, selbst der matte Silberschein der Haare wirkte erkältend und ernüchternd auf mich; ich konnte mich plötzlich auf kein Wort meiner heroischen schönausgedachten Anrede mehr besinnen; angesichts seiner Persönlichkeit fühlte ich nur das Eine, daß er mich zurückweisen würde, sehr höflich und mit gütevoller Stimme, allein so fest und bestimmt, daß jedes fernere Wort zur Zudringlichkeit wurde. … Und wenn er jetzt auch dasaß, wie der Welt entrückt, wie tief versunken in den erschütternden Gesang – in seinem Kopfe kreisten doch nur Zahlen, und ich wußte es, sobald ich ihm die Dreitausend nannte, da lächelte er leise und sagte wieder: „Sie haben offenbar keinen Begriff, wie viel Geld das ist!“

Trotz alledem stand ich plötzlich neben ihm; wie ich die wenigen Schritte Weges überwunden, wußte ich selbst kaum. Ich bog mich zu ihm hin und nannte halblaut seinen Namen. … Himmel, ich hatte ihn ja nicht erschrecken wollen, meine Stimme hatte so schwach und verzagt geklungen, und doch fuhr er in die Höhe, als habe die Posaune des Weltgerichts sein Ohr getroffen. Er sprang auf und lächelte – ich wußte wohl, warum – wie konnte man auch über solch ein kleines Geschöpf erschrecken, das wie ein winziger Zaunkönig lautlos herangehüpft war! …

Böse war er nicht, das sah ich, und doch brachte ich kein Wort über die Lippen. Hätte er doch nur die schreckliche Brille

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_713.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2023)