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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


haben Eure Nachbarn Euch gesehen und gekannt all die Zeit her, und ich kenne Euch am längsten als Euer ältester Nachbar. Wenn Ihr einmal gefehlt habt gegen Gottes Gesetz, so habt Ihr in einem langen Leben voll Gutthaten das wett gemacht. Euer Landsmann hat uns aber auch gesagt, daß Ihr des Sohnes Eures Feindes Euch menschlich angenommen habt. Eure Nachbarn vermuthen, dies sei der junge Mann Aloys, der hier vor uns steht.“

„Er ist es,“ sagte der Capitain mit Stolz.

„Wenn also dem so ist,“ fuhr der Sprecher mit unerschütterlichem Gleichmuth fort, „so sehen Eure Nachbarn deutlich den Finger der Vorsehung darin, daß dies Kind der Sünde auserwählt war, in jener Nacht uns Allen das Leben zu retten. Daß aber dieser Knabe lebt und als wackerer Bürger sich gezeigt hat schon in den Kinderschuhen, das danken wir nächst Gott Euch und Eurem wackern Herzen, Capitain. Also lassen Eure Nachharn Euch wissen, daß sie heut wie gestern gewillt und, Euch die Ehre anzuthun, die Ihr um uns verdient habt. Wir haben unsern Canvaß gestern Abend neu gemacht, und wir bürgen Euch, daß wir Eure Wahl zum Friedensrichter mit fünfunddreißig Stimmen Mehrheit durchsetzen werden.“

Der Capitain wollte reden, der Amerikaner fiel ihm ins Wort.

„Sprecht nicht zu rasch, Nachbar,“ sagte er. „Wir sehen wohl, daß jetzt, wo Eure deutsche Vergangenheit so plötzlich an den Tag gezogen ist, es Euch schwer ankommen wird, Euer Licht so recht oben auf den Scheffel zu stellen. Aber wir meinen, es sei Eure Pflicht unser Candidat zu bleiben, denn einen andern können wir jetzt in der elften Stunde nicht mehr aufstellen, und wenn Ihr uns Nein sagt, so siegen in unsrer braven Township die Sclavenhalter, was Gott verhüten wolle. Ihr habt einmal in schwerer Stunde an Eurem verstorbenen Weib und an diesem Knaben gezeigt, daß Ihr begreift, was Pflicht heißt, und so vertrauen wir, Ihr werdet auch heut Eure Pflicht kennen als amerikanischer Bürger und als Mann einer wackern Partei, die die Freiheit will für die Union und für die ganze Welt, und werdet diesen Beweis von Achtung annehmen, den Euch Eure Mitbürger darbringen möchten. Und nun Ihr unsre ganze Meinung wißt, Mann, nun sprecht, wenn es Euch gefällig ist. Denn um neun Uhr hebt das Meeting der gesammten Township wieder an, und unsre Committenten müssen wissen, wie sie zu handeln haben.“

Der Capitain stand auf, legte seine Hand auf Aloys’ Schulter und hob sein Haupt freudig empor. „Seit heut Nacht,“ sagte er, „wo ich diesem jungen Mann Alles offenbart, habe ich keine Angst mehr wegen dessen, was hinter mir liegt, und ich fühle mich stark für Alles, was noch vor mir liegen mag. Gebt mir die Hand, liebe Nachbarn und Freunde, und danket den Herren, die Euch gesandt haben, für ihr Vertrauen. Ich weigere mich keiner Pflicht mehr, die das Leben mir bringt, und wollet Ihr mich wählen, so will ich versuchen Euch ein braver und treuer Richter zu sein.“




Blätter und Blüthen.


Streifzüge eines Feldmalers. III. (Mit Abbildung.) Die Details des entsetzlichen Rückzuges der Bourbaki’schen Armee sind unseren Lesern noch in guter Erinnerung. Wir haben in Bild und Text eine ausführliche Beschreibung jenes unglückseligen Uebergangs über die Schweizer Grenze gebracht, der, wie wir schon damals äußerten, in seinen Einzelnheiten gewiß ein noch ergreifenderes Bild von dem Elend und den Scheußlichkeiten des Krieges dargeboten hat, als der berüchtigte Uebergang der weiland großen Armee des ersten Napoleon auf ihrem Rückzuge aus Rußland über die Beresina. Aus diesen Tagen des Schreckens und des Entsetzens nun erzählte ein Husar, der jene Kämpfe unter Werder’s und Manteuffel’s siegreicher Leitung mitgemacht hatte, Folgendes, das unserm Feldmaler Christian Sell als Vorwurf zu seinem heutigen Bilde diente:

„Ueberall stießen wir bei unserer Verfolgung auf die entsetzlichen Trümmer dieser in allen ihren Elementen aufgelösten Armee. Oft genug empfingen wir den Eindruck, wie wenn zuletzt den Fliehenden gar nicht mehr daran gelegen sei, die nahe Grenze der neutralen Schweiz zu erreichen; sie waren so stumpf und willenlos geworden, daß sie sich schließlich in jedes Schicksal fügten und sich wiederholt in Trupps von dreißig und vierzig Mann durch Husarenpatrouillen von zwei und drei Mann gefangen nehmen ließen. Sie wollten nur um jeden Preis ein Ende ihres augenblicklichen Jammers herbeigeführt wissen; denn schlimmer konnte es für sie in keinem Falle mehr kommen. Wie bitter kalt es in jenen Tagen des Januar war, ist bekannt; da suchten denn die herrenlosen, todtkranken Pferde zu großen Haufen in den Dörfern oder Gebirgsschluchten Schutz gegen den eisigen Wind und unerträglich scharfen Frost; Menschenleichen, tief im Schnee liegend, bezeichneten den Weg, den die fliehende Armee genommen; Waffen und Armaturstücke jeder Art bedeckten unabsehbar den Boden.

An der Spitze einer Patrouille passirte ich einen Hohlweg, der voll von Pferdeleichen war. Plötzlich stutzte mein Pferd; schon glaubte ich auf einen Feind gestoßen zu sein, der sich vielleicht in seiner letzten Verzweiflung noch zur Wehr setzen wolle, und machte mein Gewehr fertig, als ich hinter einem Felsblock sich langsam eine Hand emporheben sah. Es war ein ganz erschöpfter französischer Soldat, mit wunden Füßen und halb mit Schnee bedeckt. Der Arme, starr von Kälte, hatte in dieser fürchterlichen Lage schon mehr als vierundzwanzig Stunden zugebracht.

Im Nu war ich aus dem Sattel, meine Feldflasche mit Rothwein in der Hand. Schon ein paar Tropfen, die ich mühsam durch seine Lippen preßte, schienen ihm wohl zu thun. Sprechen konnte er vor Schwäche nicht und so übergab ich die Jammergestalt meinen nachfolgenden Cameraden von der Infanterie, die auch für seine Fortschaffung sorgten. Als ich von meinem Patrouillenritt heimkehrte, vernahm ich, daß man den Kranken an die Aerzte überliefert hatte und daß er in guter Pflege war. Ich ließ mich einen Gang nach der Ambulance nicht verdrießen. Obgleich ich nun schon seit Wochen, ja Monaten so viele französische Kranke und Verwundete um mich gesehen hatte, deren Schicksal mir natürlich durchaus gleichgültig geblieben war, kümmerte mich doch das Loos dieses Einzelnen, dem mich ein glückliches Geschick in dem Augenblick zugeführt hatte, als das Licht seines Lebens gewiß am Verflackern gewesen war. Die Aerzte hofften ihn denn auch zu retten, obschon sein Körper von den überstandenen Strapazen auf’s Aeußerste gelitten hatte. Aber Jacques Dubois – so hieß der Franzose – war noch jung und mit jedem Tage erholte sich seine Gesundheit mehr und mehr. Ich besuchte ihn, so oft es mir der Dienst gestattete, und Dubois erzählte mir von seiner Heimath. Er war der Sohn eines Uhrmachers und in der Nähe von Lyon zu Hause. Er gehörte zu den Vernünftigeren unter den Franzosen, die ich im Laufe des Krieges hatte kennen lernen, und verschloß sich nicht gegen die Erkenntniß der bittern Wahrheit, daß alles dies Unglück sich über Frankreich hatte erfüllen müssen.

‚O,‘ rief er einmal mit blitzendem Auge, ‚wir sind tapfer, wie Ihr, aber wir waren Alle betrogen – von unserer Regierung, von unseren Priestern, von unseren Generälen, von unseren Eltern, von uns selbst.‘

Später ward Jacques Dubois in die Gefangenschaft nach Deutschland gebracht; wir nahmen herzlichen Abschied, und Dubois, so niedergeschlagen ihn der Anlaß machte, der ihn aus Frankreich entführte, schien es doch nicht ungern zu sehen, daß er Gelegenheit erhielt, das von seinen Landsleuten so gründlich geschmähte Deutschland einmal aus eigener Anschauung kennen zu lernen.

Der Eindruck scheint kein ungünstiger gewesen zu sein; denn während der Tage des Friedensschlusses erhielt ich von Jacques Dubois plötzlich und unerwartet einen Brief, in welchem er mir seine Freude aussprach, nun bald wieder in sein schönes Frankreich zurückkehren zu können, und das Bedürfniß, mir für diese Freude, deren Möglichkeit er allein mir, seinem Lebensretter, zuzuschreiben habe, gerade in dem Augenblick, da sich die französische und deutsche Nation wieder versöhnt die Hände reichen wollten, noch einmal herzlich zu danken. ‚Ich habe,‘ schloß sein Brief, ‚Ihr Volk achten und kennen lernen, ich werde das auch zu Hause offen sagen – ach, ich wiederhole es Ihnen, wir waren Alle betrogen.‘

Selbstverständlich ließ ich diese freundlichen Zeilen nicht ohne Erwiderung, weiß aber nicht, ob mein Brief an seine Adresse gekommen ist, denn bis heute habe ich von Jacques Dubois nichts mehr gehört.“




Die letzte Reise.
(Mit Abbildung.)

Der Schlitten harrt am Thore. Geht an’s Scheiden!
Die Fahrt ist kurz, das Ziel ist Allen nah’.
Die Fahrt ist kurz – oft erst nach langen Leiden,
Das Ziel ist nah’ – doch Keiner lebt, der’s sah!

5
Und darum rüstet sich in seiner Weise

Ein jeglich Volk zu dieser letzten Reise.

Denn wo der Himmel ewig blau, da nicken
Die Blüthen heiter auf der Menschen Weh’,
Und wo der Himmel ewig grau, da blicken

10
So ernst von Baum und Dache Reif und Schnee;

Dort unter Palmen, hier in Nordlands Eise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

Und immer ist es auch dasselbe Klagen,
Ob Reich, ob Arm vor dem Gefährte steht,

15
Und wer zu arm zum Fahren, wird getragen

Auf diesem Weg, den Niemand selber geht.
Bald lang und laut Geleit’, bald einsam, leise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

Wie wunderbar im Kindesauge spiegelt

20
Sich das Begräbniß ab als Spiel und Zier! –

Ist das Geheimniß ewig doch versiegelt –
Sie wissen ja soviel davon als wir!
Sie sehen’s lächelnd, zitternd sehn’s die Greise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

25
Großvater, sprich den Spruch und lass’ uns beten!

Was hilft das Jammern, Mutter, lass’ ihm Ruh’!
Er hat nun längst den letzten Weg betreten –
Wer weiß, wie bald ihm folgen ich und du! –
So schlafe wohl in Nordlands Schnee und Eise!

30
Die letzte Thräne dir zur letzten Reise!
Fr. Hfm.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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