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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


kolossale Felsmassen, deren Haltung jeden Augenblick ihren Sturz und für uns Zerschmetterung befürchten ließ. Von dem Donnergebrüll, das uns umgab, wird man sich dann eine Vorstellung machen können, wenn man bedenkt, daß die ungeheure Masse des sich herabstürzenden Wassers den Tag über auf zweitausendvierhundert Millionen Tonnen (à 4000 Pfund), die Stunde auf einhundertzwei Millionen angeschlagen wird.

Meine Kräfte erlahmten, die Arme meines Führers umklammerten mich mit eisernen Banden, da ich allmählich alle eigene Widerstandskraft verlor und willenlos mich weiterzerren ließ, sie preßten mich fester und fester gegen die schwankende Balustrade, während sein eigener, des Weges kundiger Fuß an der ungeschützten Seite des Abgrundes entlang glitt.

Wir hatten die Hälfte des Weges nun glücklich zurückgelegt. Mit beiden Händen am Geländer angeklammert hielten wir kurze Rast und sammelten unsere Kräfte.

„Wollen Sie mit zurück? nicht für die Welt gehen ich und mein Sohn einen Schritt weiter,“ keuchte eine heisere Stimme an mein Ohr. Ich riß die geblendeten Augen gewaltsam auf; einen Moment kurzen Besinnens, kurzen Kampfes nur – ich wollte doch die Todesangst nicht ganz umsonst ausgestanden haben! Mit dankendem „Nein“ hatte ich die Möglichkeit der Umkehr mir schon geraubt; denn wie schwarze Schatten im Sprühregen schwebten die Enteilenden – durch den Stand des Windes jetzt begünstigt – zehn Schritte hinter uns auf dem Rückzug.

Zu drei Personen, aber zu drei todesmuthigen, entschlossenen, war unsere kleine Gesellschaft nun zusammengeschmolzen. Mit vollem Aufraffen aller moralischen Kraft traten wir unverschüchtert weiter und weiter den Weg in die Tiefe bis zu dreihundert Fuß an. Ich beherrschte mit fester Willenskraft die zuckenden Nerven, wollte ich doch das Abenteuer, da es nun einmal begonnen, auch unerschrocken zum Ende führen.

Der Sturzregen von oben minderte sich zwar, aber die Gefahren nahmen zu, jetzt wo der tastende Fuß nur in den Löchern des Felsgerölls einen Anhalt fand, über das es zudem noch brüllend und rauschend fortbrandete. Jeder Fehltritt, jedes Ausrutschen schon hätte grauenhaften Sturz und ein sicheres feuchtes Grab nach sich gezogen. Dennoch drangen wir vor und vor, jetzt erreichten wir den letzten Felsen, unter dem einige Fuß tiefer ein ausgewaschener Stein das Endziel unserer Reise in die Tiefe werden sollte.

Mein einer Begleiter hatte mit kühnem Sprunge in die Tiefe ihn jetzt erreicht; der Führer schwang sich im nächsten Moment an seine Seite und ein bewunderndes „Ah!“ hallte zu mir empor, die ich, beide Füße in die kleine Steinhöhlung geklemmt, die Hände an die überhängenden Felsriffe geklammert, die Entfernung von mir bis zum festen Plateau mit den Blicken abmaß. Meine Begleiter waren schlanke hochgewachsene Gestalten mit langen Gliedmaßen; ich selbst leider – wie schon erwähnt – bin von winzigen Proportionen. Der Sprung, der für sie ein Wagniß war, ward meinen kurzen Gliedern zur Unmöglichkeit.

Der Führer stand jetzt, der Tiefe ab- und mir zugewandt, mit zurückgezogenem Oberkörper in der Stellung eines Fechters. Beide ausgebreitete Handflächen hatte er mir zugehoben.

„Lasten Sie sich fallen, ich fange Sie auf.“ Jede Muskel und Ader schwoll zu Strängen an dem Athleten, als er sich nun zum unerschütterlichen Stützpfeiler zu stählen trachtete.

Die eine Minute langen Zauderns ward mir zur Ewigkeit. Wenn seine Hand nicht eisern sicher war, wenn er seine Kräfte überschätzte und die nervigen Finger dem wuchtigen Anprall meines sinkenden Körpers nicht gewachsen waren! Ich schloß vor dem gräßlichen Bilde die Augen, es drehte sich in wilden Kreisen um mich und das erstarrende Blut trieb den Angstschweiß in Bächen über das Antlitz. Dort oben konnte ich nicht mehr lange kleben zwischen Himmel und Wasser; die wunden Hände erlahmten im Griff der zackigen Schroffen, noch wenige Secunden und sie verloren den Halt. Ein, zwei Minuten athemlose Erwartung; im verzweifelten Entschluß sinkt der Oberkörper vorwärts, die Füße lösen sich aus ihrem Stützpunkt – ich gleite der Rettung oder der Ewigkeit entgegen!

Ein eherner Griff und die Besinnung kehrt mir zurück; von den Händen des Mannes, dessen herculischer Kraft ich allein die Erhaltung meines Lebens danke, sank ich herab auf meine Kniee, und, als wolle das höchste Wesen in seiner vollen Glorie und Nähe sich gerade jetzt uns offenbaren, spannte es, in nie geahnter Pracht, seinen schillernden Friedensbogen über und unter uns aus. Es war ein Moment der höchsten Weihe; in uns und um uns lebte und webte der einzige Gott!

Noch eine kurze Zeit des Kampfes hatten wir gegen das Wüthen der Elemente zu bestehen, als wir von Stein zu Stein emporklommen, zu denen ich mich an den herabgestreckten Händen des Führers von jedem Vorsprung neuerdings aufzuschwingen hatte. In weitem Bogen ging es langsam bergauf. Noch einmal bückte ich mich im Sturzbad, um einen kleinen Stein zur Erinnerung an die überstandenen Gefahren als Trophäe heimzutragen. Wir standen auf demselben Fleck, von dem wir ausgegangen. Jetzt fielen die letzten Tropfen, der rieselnde Staubregen hörte plötzlich auf. Nach zwanzig Minuten, die sich zur Ewigkeit in der Todesangst ausgedehnt, zerschunden, abgehetzt, vor Kälte klappernd und bebend, in triefenden Kleidern, erreichten wir, mehr todt als lebendig, die sichere Höhe.

Wir athmeten lang und athmeten tief
Und begrüßten das rosige Licht!

„Sie sind eine kleine couragöse Frau,“ begrüßte mich mein Begleiter und schüttelte mir treuherzig die Hände zum Abschied. „Sie sind eine kleine Heldin,“ bewillkommneten uns Jene, die uns so muthlos auf halbem Wege verlassen hatten.

„Der Mensch versuche die Götter nicht“, war Alles, was ich zur Entgegnung zu stammeln vermochte. Meine Kräfte waren völlig dahin, meine Glieder gelähmt; ich schleppte mich mühsam die Treppen hinauf. Meinen lieben Verwandten sank ich jauchzend in die Arme; war es mir doch, als wäre ich nach dieser Reise in die Unterwelt dem Leben auf’s Neue zurückgeschenkt, als hätte ich es als kostbares Pfand, dessen Werth ich ehedem unterschätzte, neuerdings erst vom Himmel zurückempfangen.

Die Höhle der Winde ist für mich aber die Feuerprobe der Ausdauer und des Muthes geworden. Ein Testament war glücklicherweise für dieses Mal überflüssig.

C. Löwenherz.




Die Sühne durchs Leben.
Von Gottfried Kinkel.
(Schluß.)


Mit diesen Worten blickte Conrad Wölfling in die Augen des Jünglings, der sein Sohn nicht war. Aloys sah ihn mit ernster Aufmerksamkeit an, aber erschüttert war er nicht, und kein Ausruf verrieth sein Erstaunen.

„Aloys,“ fuhr der Capitain fort, „ich habe gearbeitet, meine Schuld gut zu machen vor Gott und den Menschen. Das Gesetz verfolgt mich nicht mehr. Daß die Nachbarn es jetzt wissen, das will ich gerne tragen als letzte Buße. Aber ein Mensch ist noch, vor dem ich mich fühle als vor meinem Richter, und das bist Du. Aloys, ich habe damals, glaube ich, die Mutter und Dich gerettet; kannst Du mir heute in Deinem Gemüth verzeihen, daß ich Deinen Vater gemordet habe?“

Da knieete der starke männliche Jüngling vor den zitternden Mann, legte sein Haupt in dessen Schooß, und seine Thränen flossen. „Ihr,“ sagte er, „seid mein Vater, mein lieber Vater, und nicht der Mann, der mich verstoßen hat, als ich noch im Schooße der Mutter war. Und redet nicht von Verzeihung, denn das ziemt Euch nicht gegen mich. Den Mann, dessen Blut in mir ist, habe ich lange in meinem Herzen begraben, denn daß Ihr ihm das Leben nahmt, das weiß ich seit vier Jahren!“

Der Capitain sprang vom Stuhle auf. „Und woher?“ fragte er.

„Die Mutter selber hat es mir gesagt am Tage vor ihrem Tode. Ihr waret ausgeritten, um die letzte Arznei für sie zu holen, da war ich wohl eine Stunde mit ihr allein, und so hat sie mir’s anvertraut.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_707.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)