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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Vierteljahre in Erfüllung. Am 3. September ertönte zum ersten Male bei kirchlicher Feier der Chorus der Stimmen des gewaltigen Werkes unter der Künstlerhand des Organisten Hepworth. Erschütternd umwogte die andächtigen Hörer das Tonmeer, doch nimmer wurde es eine unfaßbare Tonmasse, Sinn und Gehör verwirrend. Urmächtig, doch wohlthuend blieben die vollen Accorde, in mannigfachste Klangfarben gekleidet, die klaren Leiter der begeistert singenden Gemeinde. Ladegast’s Meisterschaft ist oft, auch an dieser Stelle, anerkannt worden: in diesem Werke feiert seine Kunst höchste Triumphe. – Es ist hier nicht am Orte, diese Orgel in ihren Theilen und deren Verbindung zu schildern, es wird dies in einer vom großherzoglichen Musikdirector und Orgelrevisor Dr. Maßmann verfaßten Broschüre geschehen, doch sei ihrer Vorzüge in Kurzem gedacht.

Die vierundachtzig klingenden Stimmen der Orgel sind auf vier Claviere und ein Pedal so vertheilt, daß ein jedes der beiden Hauptclaviere in zwei Abtheilungen gruppirt ist, die zweiundzwanzig Stimmen des Pedals aber in drei Abtheilungen zerfallen. Sechs sanfte Stimmen bilden die dritte Abtheilung, ein vortrefflich wirkendes Piano-Pedal.

Die eben genannten und andere Stimmengruppen können durch besondere Tritte regiert, d. h. zum augenblicklichen Erklingen und plötzlichen Schweigen gebracht werden, ohne daß die den Abtheilungen angehörenden Register erst kurz zuvor gezogen oder entfernt werden müssen. Solcher Collectivtritte sind fünfzehn vorhanden, und dieselben beherrschen die verschiedenen Theile aller Manuale und des Pedals. Waren schon bisher die Ton- und Klangverbindungen einer größern Orgel unberechenbar und in ihren Verbindungen von staunenswerther Wirkung, so erweitert sich durch die Vorrichtung der Combinationen die Macht und die Wirksamkeit derselben zu einer wunderbaren Tongewalt.

Nicht nur diese Combinationen werden durch ein pneumatisches Werk für die Registratur geschaffen, vor Allem muß erwähnt werden, daß dasselbe Werk eine Crescendo- und Decrescendo-Einrichtung regiert, die bedeutendste Erfindung und großartigste Errungenschaft, welche die Orgelbaukunst gerade in dieser vollkommenen Gestalt Herrn Ladegast verdankt. Um eine größere Stärke der Töne nach und nach zu erlangen, war bisher nöthig, die verschiedenen Register in gewisser Reihenfolge zu ziehen, eine besonders bei größeren Orgeln höchst zeitraubende und die Hände störende Thätigkeit. Mittels eines einzigen Zuges oder Trittes wird hier das pneumatische Werk in Thätigkeit gesetzt und es treten nach und nach, je nach dem Willen des Spielers, zu der sanftesten Flötenstimme alle übrigen Stimmen in wohlberechneter Ordnung hinzu, so, daß zwar im Nu das ganze Werk ertönen, aber auch jede einzelne Stufe des erreichten Crescendo beliebig beibehalten oder auch zu einem schwächeren Stärkegrade zurückgeführt werden kann. Die Anwendung dieser Construction ist von unbeschreiblicher Wirkung und erhebt die Orgel in der That zu der Stellung der „Königin der Instrumente“. Combinationen auch für das Crescendo und Decrescendo herzustellen, war man in Paris mehrfach bemüht, doch blieb es bei wenig ergiebigen Versuchen. Die Orgelbaukunst sah zu keiner Zeit solchen Erfolg, wie hier nie rastender Fleiß und ausgesprochene Genialität errangen. Zu beiden Eigenschaften gesellt sich Accuratesse, Solidität und Eleganz der Arbeit. So entstand unter specieller Aufsicht des Meisters in der Werkstatt zu Weißenfels ein deutsches Kunstwerk. Das fabrikmäßige Schaffen ist an dieser Stelle nicht zu Hause. Leider können nur wenige, aber dann auch wahre Werke der Kunst von hier aus der Welt geboten werden!

Es würde zu weit führen, dem Leser mehr des Neuen dieser Kunst vorzuführen (wie die Leistungsfähigkeit eines neuen Windapparates in Gestalt von vier doppelt wirkenden Luftpumpen etc.), nur auf den im Bilde beigegebenen großartigen Prospect sei noch aufmerksam gemacht. Ein Werk des Herrn Baurath Krüger in Schwerin ist er in reiner Harmonie zu den Räumen und dem Baustil des Domes gedacht und ausgeführt.

Dr. Maßmann schreibt am Schlusse seines officiellen Gutachtens, das Resultat der achttägigen gründlichsten Prüfung: „Das kolossale Werk ist unbestreitbar die großartigste und hervorragendste Orgel im ganzen deutschen Vaterlande!“

Dr. H. Langer.




Briefe eines Wissenden.
Zweiter Brief. Eulenburg. – Mühler. – Adelheid. – Moltke’s Schweigsamkeit.


Soeben komme ich von meinem alten lieben Freunde Eulenburg und habe mich wieder recht von Herzen an seinem unverwüstlichen Humor erquickt. Welch angenehmer Gesellschafter! Wie gefällig sind seine Formen, wie heiter fließt seine Unterhaltung! Immer wieder und wieder kommt mir der Gedanke: „Schade, daß mein lieber Freund Minister, und nun gar Minister des Innern und der Polizei, geworden ist! Da muß er arbeiten, sich quälen und ärgern, und die Welt hat auch nichts als Aerger von ihm.“ Wie seitab vom rechten Wege oft das Leben den Menschen führt, und Eulenburg’s Beruf war doch so klar ausgesprochen. Wo hätten Könige und Kaiser einen vortrefflicheren Truchseß finden können, um „des perlenden Weines zu schenken“, wo einen geistvolleren grand-maître des menus plaisirs? – Polizeiminister! Was bedarf es in solchem Amte der Liebenswürdigkeit? Sie verträgt sich eigentlich nicht mit solcher Stellung, in der die lachenden und erheiternden Gaben der Geselligkeit ungenützt und unbenutzbar verkommen müssen. Zudem kann ein Minister sich einer ganzen Reihe von unschuldigen Belustigungen nicht füglich, ohne Anstoß zu erregen, hingeben, und darf selbst keine schlechten Witze machen, ohne die schlechten Witze Anderer zu provociren. In solcher Zwangsjacke kann ein Mann wie Fritz Eulenburg nicht gedeihen. Seine schönen Gaben müssen schimmlig werden, und er selbst kommt in die schiefe Lage, daß er, statt der allgemeine Liebling zu sein, doch hie und da zum Aergerniß wird. Niemals hat ein fatalerer Mißgriff stattgefunden, als da man ihn in sein heutiges Amt berief, verhängnißvoll für ihn selbst wie für das Land. Seine Jugend, seine Vergangenheit und Gegenwart, Alles in und an ihm wies darauf hin, daß in seiner jetzigen Stellung keine richtige Verwendung seiner Fähigkeiten und Kräfte, die in der That gar nicht unbedeutend sind, erfolgen konnte.

Eulenburg war, als ich ihn auf der Universität Königsberg kennen lernte, allgemein beliebt, unter seinen Studien- und Kneipgenossen sowohl wie in der Gesellschaft. Auf der Mensur und bei dem Glase hatte er kaum seines Gleichen, und es gehörte seine starke Natur dazu, um ohne Schaden an der Gesundheit die durchschwärmten Nächte zu verwinden. Der Rohheit, die damals unter den Studenten Königsbergs in der widerlichsten Weise förmlich gefeiert wurde und in einem Grade herrschte, wie man sie auf anderen Universitäten schon zu jener Zeit nicht mehr kannte, heute aber Niemand begreifen würde, ergab er sich nicht, hatte vielmehr in der dortigen besten Gesellschaft, der er als Sprößling einer der ältesten und vornehmsten Familien Ostpreußens angehörte, Gelegenheit, sich in feiner Sitte und gutem Tone zu bilden. Von Königsberg ging Eulenburg nach Bonn, arbeitete später in verschiedenen Provinzen als Auscultator und Referendarius und erwarb sich zuerst einen gewissen Ruf in Köln, wo er als Assessor bei der Regierung Censor der „Kölnischen Zeitung“ wurde, eine Function, die er mit aller nach den damaligen Vorschriften zulässigen Liberalität wahrnahm. Seine persönliche Liebenswürdigkeit, die ihm überall Freunde schuf und nirgends Gegner erweckte, half ihm über manche Schwierigkeit hinweg, die Anderen Verlegenheiten bereiten kann. So gerieth er beispielsweise eines Nachts, in sehr angeheiterter Gesellschaft aus einem Weinhause kommend, mit einem Nachtwächter in einen Conflict, der schließlich solche Dimensionen annahm, daß Eulenburg genöthigt wurde, den kleinen Rest der Nacht auf der Wache zuzubringen. Daß dieser Vorfall, so unerheblich er in den Augen jedes Billigdenkenden ist, bei der damaligen gereizten öffentlichen Stimmung und der Stellung Eulenburg’s zu der Presse von dieser in keiner feindseligen Weise gegen ihn ausgebeutet wurde, ist gewiß ein sprechender Beweis, daß man seine amtliche Thätigkeit von seiner Person zu scheiden allen Grund hatte.

Später ward Eulenburg in das Ministerium, dem er jetzt vorsteht, von dem Minister v. Westphalen als Hülfsarbeiter berufen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_702.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)