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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Ich meine, Du könntest Deinen Vortrag nun beginnen,“ wandte er sich an Charlotte.

„Gleich, lieber Onkel!“ Sie flog auf mich zu, sank auf die Kniee und erfaßte meine Hand. „Geruhen Euer Durchlaucht, mir armen Sünderin zu verzeihen,“ bat sie schelmisch. „Ich thue hiermit Abbitte; aber nur vor Ihnen, Haideprinzeßchen – von allen Anderen beanspruche ich Dank dafür, daß ich eine Augenweide verlängert habe.“

Ich mußte lachen, obgleich mir noch die Thränen an den Wimpern hingen. … Wie sie es nur fertig brachte, so vor Aller Augen auf die Kniee zu fallen – das erschien mir ganz besonders bewundernswürdig – ich wäre am liebsten in ein Mäuseloch gekrochen. Sie fuhr mir mit beiden Händen liebkosend durch die Locken, dann erhob sie sich und setzte sich wieder an den Flügel.

Sie spielte fertig, aber mit zu großem Kraftaufwand; das Instrument dröhnte unter ihren Händen, und es wäre mir lieber gewesen, wenn all das Rauschen und Tosen in der weiten Haide hätte verklingen können – hier kam es nervenerschütternd von den Wänden zurück. Aber ich war der Musik von Herzen dankbar, sie hatte die Aufmerksamkeit der Anwesenden von mir abgelenkt, und nachdem ich eine Zeitlang, tief im Fauteuil wie in einem schützenden Hafen gebettet, regungslos verharrt hatte, wagte ich auch einmal, die Augen aufzuschlagen.

Das Erste, was ich sah, war der alte Buchhalter; er saß in der Fensternische, von dem Vorhang halb verdeckt – Charlotte hatte Recht gehabt, „er war wüthend“. – Gestern hatte seine Entrüstung einen ziemlich grandiosen Styl angenommen – wie eine Art Prophet war er anzusehen gewesen, und das beschwörende Pathos in seiner Stimme und Haltung hatte mich eingeschüchtert und mit Furcht erfüllt. In diesem Augenblick aber war er nur ein tiefgeärgerter Mann, der mit Mühe seinen Groll hinunterwürgte – die Linke, an der kostbare Steine funkelten, lag festgeballt auf dem Fenstersims; das mir halb zugewendete, classisch edle Profil war entstellt durch grollend herabgesenkte Mundwinkel, und die ganze Gesellschaft schien seine Gnade verwirkt zu haben, denn er wandte ihr den Rücken. … Der Gegenstand seines Hasses, der junge Helldorf, lehnte an der Thür, durch die ich gekommen. Er war vielleicht der aufmerksamste und dankbarste Zuhörer, denn er stand unbeweglich, und seine Augen hingen wie festgezaubert an der Spielerin – er mochte anderer Meinung sein, als Herr Claudius, der bei jeder Steigerung, die unter den kraftvollen Händen erdröhnte, finster die Brauen zusammenzog und mißbilligend den Kopf schüttelte – also auch hier spielte er sich auf den Sachverständigen, der – Krämer!

Ich fühlte plötzlich eine leichte Erschütterung des Fauteuils, und sah seitwärts. Dagobert stand neben mir, er hatte den Ellenbogen vertraulich auf die Lehne meines Stuhles gelegt. Bei meinem Aufblick sah er mir tief in die erschrockenen Augen, bog sich ohne Weiteres nieder, und, gedeckt durch rauschende Accorde, flüsterte er mir in das Ohr: „Sie gehen heute noch zu der Prinzessin?“

Ich neigte den Kopf.

„Dann denken Sie auch ein klein wenig an mich in dem Paradies, das Sie betreten werden – ich bitte darum!“

Es kam eine Art von Schwindel über mich. Diese flüsternden Laute, die weich und innig baten, übten eine unbeschreibliche Wirkung auf mein Inneres. Ich sollte ihm, der mir in der Haide so spöttisch und unnahbar gegenüber gestanden, eine Gunst gewähren, ihm, dem Tancred, der in seiner Schönheit und Officierswürde wie ein König unter all den Krämern stand? – Das Blut stürmte mir nach den Schläfen, und ohne zu antworten, senkte ich den Kopf tief auf die Brust – ich war stolz und glücklich, aber das brauchten ja die Anderen nicht zu sehen.

Nach Beendigung des Musikstückes und den üblichen Danksagungen für den Genuß brachen die Gäste auf. Auch Helldorf griff nach seinem Hut. Herr Claudius gab ihm einen Wink, und ich hörte, wie er leise zu dem jungen Mann sagte: „Bleiben Sie noch, ich möchte Sie auch einmal singen hören; man spricht viel von Ihrem Bariton.“

Während des allgemeinen Aufbruchs schlüpfte ich in das anstoßende Zimmer; vielleicht konnte ich von dort aus eine Thür erreichen, durch die ich in den Corridor gelangte. Meine ganze Situation, das unvermuthete Hereinplatzen in die Gesellschaft war doch zu lächerlich gewesen, ich fürchtete Charlottens Spott, wenn wir allein sein würden, und ging ihr für heute lieber ganz aus dem Wege.

An das Zimmer, durch das ich huschte, stieß ein großer Salon, in welchem gespeist worden war. Eine offene Thür führte nach dem Corridor, wo noch der alte Erdmann wie eine Schildwache auf- und abging. … Welch ein Reichthum von Silbergeschirr bedeckte die Tafel inmitten des Zimmers und die Nebentische! Mein Blick streifte im Vorbeigehen darüber hin, dann aber blieb er auf der einen Seitenwand hängen, und ich konnte nicht weiter. …

Das war „der prachtvolle Officier“, wie Charlotte ihn genannt hatte, der aus dem geschnitzten, schweren Rahmen niedersah! – Ein schöner, stolzer Mann mit dem Lächeln der Lebenslust und Siegesgewißheit auf den schwellenden Lippen! … Und die weiße Hand, die sich so kräftig und doch mit so viel ungezwungener Grazie auf die Tischplatte stützte, sie hatte wirklich die Waffe gehoben und mit einem einzigen Druck diese strahlend heitere Stirn zerstört? … Hatte er die grause That in der Karolinenlust verübt? War mein Fuß vielleicht über die Stelle geschritten, wo der Mann mit dem zerschmetterten Kopf gelegen? … Wie oft hatte mir Heinz gruselnd versichert, daß die Selbstmörder Nachts „umgehen müßten und keinen Frieden fänden“! … Und wenn es nun wirklich um Mitternacht durch die versiegelten Säle schlich und die schmale, dunkle Treppe herabkam, und den Schrank neben meinem Bett lautlos auf die Seite rückte? – Fast hätte ich aufgeschrieen vor Entsetzen – ich wandte das Gesicht weg von dem Bild, das mich mit lebendig funkelnden Augen anstarrte – da trat Herr Claudius mit suchenden Blicken in das Zimmer. Alle Scheu und Vorsicht vergessend, deutete ich zurück auf die gefürchtete Gestalt.

„Ist das Unglück in der Karolinenlust geschehen?“ fuhr es mir heraus.

Er wich mit rothüberströmtem Gesicht zurück, und seine Augen schossen Blitze.

„Kind, an was rühren Sie da!“ sagte er finster. „Ich werde diese unberufenen Zungen denn doch bitten müssen, sich ein wenig zu menagiren!“ Er schwieg einen Augenblick und heftete sein Auge auf das Gesicht des Bruders. „Nein,“ sagte er dann milder, „es ist nicht in der Karolinenlust geschehen – ängstigt Sie der Gedanke?“

„Ich – ich fürchte mich vor Gespenstern und Heinz auch, und Ilse, die sagt’s nur nicht!“

Ein ernstes Lächeln schwebte um seine Lippen. „Ich sehe bisweilen auch Gespenster, die ich fürchte, und in diesem Augenblick mehr als je,“ sagte er – ich wußte nicht, ob er im Scherz oder Ernst sprach – „Sie gehen heute noch an den Hof?“

Ich mußte innerlich lachen, er stellte dieselbe Frage, wie Dagobert.

„Ja,“ versetzte ich, „und ich werde mich sputen müssen, um sechs Uhr sollen wir im Schlosse sein.“

Ich wollte rasch über die Schwelle schreiten, er hielt mich mit sanfter Hand zurück.

„Denken Sie an sich, damit Sie sich in der Hofluft nicht selbst verlieren!“ warnte er mit einer eigenthümlichen Betonung und hob den Zeigefinger. Es war seltsam, fast, und zwar zum ersten Mal, wäre mir diese Stimme zu Herzen gegangen – ah bah, das rieth mir der Mann, der auch immer nur an sich dachte! Wie ganz anders hatte doch Dagobert gebeten! …

Ich schüttelte den Kopf, lief hinaus und sprang die Treppe hinab. … Ein Glück aber war’s, daß Ilse mein widerwilliges Kopfschütteln nicht sah – o, die Moralpredigt, die es da abermals gegeben hätte!



19.

In meinem Zimmer fand ich die Zofe noch vor. Sie bemächtigte sich meiner, steckte die fehlende Schleife fest, und setzte mir ein rundes, weißes Strohhütchen auf die Locken.

Ich warf einen Blick in den Spiegel und fand plötzlich, daß mein nie beachtetes Haar, das mir stets eine unliebsame Last gewesen, doch eigentlich in prächtigen, glänzend schwarzen Ringeln über den Nacken hinabwoge, und daß es vorzüglich schön von den milchweißen Bändern des Hutes absteche. Ilse mit ihren scharfen Augen ertappte mich sofort auf dieser allerersten Selbstbeäugelung, das harte Gesicht mit den carmoisinrothen Backenknochen erschien

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