Seite:Die Gartenlaube (1871) 698.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

alte Silberzeug von den Jacobsohns und die Ringe und Armbänder und Ketten verkaufen mußte, weil Sie ein berühmter Mann sind – sehen Sie, und noch weniger will mir’s in den Kopf, daß nun auch das Kind sein Bischen Ererbtes hergeben soll. Nehmen Sie mir’s nicht übel, Herr Doctor, aber es ist mir immer gewesen, als fiele das unmenschlich viele Geld in ein großes, grundloses Loch, denn man sieht und hört nichts wieder davon, wenn es einmal geschluckt ist. … Es kann ja sein, daß es in Ihrem Geschäft steckt, und daß es später einmal, wenn das verkauft wird –“

Mein Vater fuhr in die Höhe – Alles konnte er ertragen und hinnehmen, nur den Gedanken nicht, daß sich je eine fremde Hand an seine Sammlungen legen würde. Er streckte Ilse entrüstet und unterbrechend beide Hände entgegen. Sie verstummte für einen Augenblick, dann aber fuhr sie unerschrocken fort. „Ich habe übrigens auch gar keine Macht mehr über das Geld – es liegt im Vorderhause im Geldschrank – Sie wollten es ja nicht annehmen, Herr Doctor – und da hab’ ich’s Herrn Claudius gegeben. Der ist aber nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt, der heute nimmt und morgen wieder herausgiebt, wie Andere gerade wollen.“

Mein Vater schlug, ohne noch ein Wort zu verlieren, das Papier wieder um das Goldstück und steckte es in die Tasche. Seine Verstimmung und wortlose Niedergeschlagenheit gingen mir tief zu Herzen – allein da war nichts zu machen. In Ilse’s ganzem Wesen lag die tiefste Genugthuung darüber, daß sie das Geld in Sicherheit gebracht hatte. Ich fürchtete mich vor den harten, hellen Augen und wagte auch nicht ein Wort der Fürsprache, als mein Vater wieder in die Bibliothek gegangen war. –

In der vierten Nachmittagsstunde trat das hübsche Stubenmädchen, das bei Charlotte auch den Dienst der Jungfer versah, in mein Zimmer. Sie hatte eine kleine verdeckte Korbwanne im Arm, und als sie das verhüllende Tuch lüftete, da bauschten mir weiße mit kleinen schwarzen Blättern besäete Gazewogen entgegen.

„Fräulein Claudius schickt mich – ich soll Anprobe halten,“ sagte sie und kramte den Korb aus. Währenddem versicherte sie Ilse, daß es heute „ein Tag zum Davonlaufen“ im Vorderhause sei.

„Denken Sie sich,“ sagte sie, „wir haben Herrendiner. Alles ist auf den Beinen und läuft und rennt – da befiehlt auf einmal in aller Frühe Herr Claudius – werden Sie’s wohl glauben? – daß die Schreibstube nach dem Hofe zu verlegt werden soll, und zwar sofort – unsere sämmtlichen Männer wollten auf den Köpfen stehen! Ich bitte Sie, die Schreibstube, in der alle Claudius weit über hundert Jahre gearbeitet haben! Und Keiner hat gewagt, auch nur einen Schrank anders zu stellen, und nun auf einmal werden alle die bröckligen, morschen Sachen behutsam aus der alten dunklen Stube in eine sonnenhelle getragen – die werden sich schon wundern! … Und grüne Vorhänge hat der Tapezierer sofort aufstecken müssen, weil es gar zu hell ist und Herr Claudius mit seinen schwachen Augen das Licht nicht vertragen kann. … Darauf mache sich Einer einen Vers – Niemand im Hause kann’s, aber der alte Erdmann geht ganz blaß herum und meint, das deute auf den Untergang der Welt.“

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin – was kümmerte mich denn die Schreibstube des Herrn Claudius? … Meine Augen verschlangen die Wunderdinge, die sich unter den Händen der Sprecherin entfalteten. Auch Ilse verfolgte jeden Gegenstand mit prüfenden Blicken, und ihre Finger zogen und zupften zu meinem Schrecken an dem leichten Stoff des Kleides, in wie weit er wohl haltbar sei; als aber die Zofe schließlich ein paar wunderkleiner schwarzer Atlasstiefelchen mit spitzen Fingern vom Boden des Korbes aufnahm und mir lächelnd vor die Augen hielt, da verließ sie, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer.

Ich war doch schrecklich verhärtet – dieses Hinausgehen machte mir nicht den geringsten Kummer, im Gegentheil, ein Stein fiel mir vom Herzen, als Ilse’s härener Rockzipfel hinter der Thür verschwand. Rechts und links polterten die gediegenen Schöpfungen des Haideschusters auf die Dielen – Ilse hatte Recht, in „den Spitzen“ und dem Atlas war es genau so, als sei ich wieder barfuß, als flösse die Haideluft schmeichelnd um meine Füße. Dann tauchte mich die Jungfer in die Gazewolke und steckte hier und da eine schwarze Taffetschleife auf – Duft, wohin ich sah! Er floß um die Arme und Schultern und von der Taille bis auf die Zehenspitzen nieder – und da drin sollte ich stecken? Ich? … Ach, das war ja gar nicht zum Aushalten, das war wirklich zum Davonlaufen! … „Halt, halt!“ schrie die Zofe, „noch die Schleife auf die linke Achsel! So können Sie sich doch vor Niemandem sehen lassen!“

Aber dafür hatte ich keine Ohren. Ich lief bereits durch die Halle, dann über die Brücke und durch den Blumengarten, und um mich her wogte und wallte es, als habe mich eine weiße Sommerwolke aufgenommen.

Heute graute mir nicht vor dem Vorderhaus. Ich rannte die gewundene Steintreppe hinauf nach Charlottens Zimmer. In dem dunklen Corridor stand freilich der alte Erdmann, stets wie aus Holz geschnitzt, und hielt eine Serviette in der Hand – er riß die Augen weit auf vor Erstaunen, und es kam mir vor, als griffe er nach meinem Kleid, um mich zurückzuhalten, als ich an ihm vorüberflatterte – ei, was ging mich denn der alte Isegrimm an? … Ich stürmte ohne Weiteres in das Zimmer hinein.

Seine Fenster gingen nach Hof und Garten hinaus, und wenn auch durch dunkle Tapeten und schwere, braune Damastgardinen abscheulich verdüstert, war es doch das freundlichste im ganzen Hause. Ein prachtvoller Flügel stand an der Wand mir gegenüber. Charlotte saß davor und ihre Hände lagen auf den Tasten, als wolle sie eben beginnen zu spielen. Nicht weit von ihr saß Fräulein Fliedner im perlgrauen Seidenkleid und duftigen Blondenhäubchen – weiter sah ich nichts.

„Ach, Fräulein Charlotte,“ rief ich, „sehen Sie mich doch nur an! … Was sagen Sie denn nur?“ – Ich faßte eine der abstehenden Aermelbauschen. – „Ist’s nicht, als hätte ich Flügel, wirkliche Flügel? … Ach, und die Schuhe – nein, die Schuhe müssen Sie sich ansehen!“ – Ich hob leicht den Saum des Kleides und ließ den Atlas im Licht spiegeln „Nun geht’s nicht mehr: ‚Trab, trab‘, wie in meinen schrecklichen Nägelschuhen! … Passen Sie auf, ob Sie auch nur einen Laut hören, wenn ich über die Dielen gehe.“ – Mit festem Schritt, wie ein Soldat, marschirte ich auf sie zu. – „Nicht wahr, nun bin ich nicht mehr die lächerlich herausstaffirte Kindergestalt, wie Herr Eckhof sagt?“

„Nein, Haideprinzeßchen, nein!“ rief sie. „Wer hätte denn gedacht, daß in der schwarzen Puppe solch ein Schmetterling stecke?“ Sie lachte, lachte, daß sie sich die Seiten halten mußte, und auch Fräulein Fliedner hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund und sah mit lächelnden Augen neben mir hin – ich meinte, nach der Wand.

„Haben Sie sich denn schon im Spiegel gesehen?“ fragte Charlotte.

„Ei bewahre – so viel Zeit blieb mir nicht; ist auch gar nicht nöthig. Ich sehe ja das Kleid und die Schuhe so auch, da brauche ich doch nicht erst den Spiegel dazu.“

„Na, aber ansehen müssen Sie sich doch einmal,“ kicherte sie und zeigte nach dem deckenhohen Spiegel, der den Raum zwischen den zwei Fenstern einnahm. Arglos lief ich hin und sah in das Glas – ich stieß einen Schrei aus und steckte den Kopf tief in die verschränkten Arme – o Gott, nicht mit dem leisesten Gedanken hatte ich an die Herrengesellschaft im Vorderhaus gedacht, und nun stand ich mitten drin. Hinter mir, dem Spiegel genau gegenüber, führte eine Thür in die Gesellschaftsräume des Hauses – ich hatte sie bisher nur geschlossen gesehen – jetzt waren beide Flügel zurückgeschlagen, und auf der Schwelle stand Dagobert; seine braunen Augen begegneten lächelnd den meinen. Ein rother Kragen leuchtete unter seinem Kinn, und auf der Brust und an den Schultern blitzte Gold – er war in Uniform. Hinter ihm aber tauchten noch andere lachende Männergesichter auf, und in einem Eckdivan, neben einem alten Herrn, saß Herr Claudius. … Das Alles hatte ich mit einem einzigen Blick erfaßt.

Ich zitterte am ganzen Körper, und in meine Augen traten Thränen der Scham und des Aergers. Da legten sich ein Paar weiche, kühle Hände auf meine Arme und zogen sie vom Gesicht. Herr Claudius war aufgesprungen und stand vor mir.

„Sie haben sich erschreckt, Fräulein von Sassen,“ sagte er. „Es war ein übler Scherz von Charlotte, den sie Ihnen abzubitten hat.“ Er führte mich zu einem Fauteuil und drückte mich sanft in die Polster.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_698.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)