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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


17.

Ja, es mußte dem Buchhalter gelungen sein, Herrn Claudius auf das Tiefste zu verletzen. Nach einem blitzähnlichen Aufzucken blieb dessen schlanke Gestalt in starrer Ueberraschung stehen und sah dem Dahinschreitenden nach, bis er im Gebüsch verschwunden war.

Ich wollte diesen Augenblick benutzen, um fortzuschlüpfen, allein bei dem leisen Geräusch, das meine Bewegung verursachte, wandte sich Herr Claudius nach mir um.

„Bleiben Sie noch!“ sagte er und streckte den Arm zurückhaltend gegen mich. „Der alte Mann war in großer Aufregung, ich möchte nicht, daß Sie ihm in diesem Augenblicke noch einmal begegneten.“

Er sprach so freundlich und gelassen wie immer. … Sollte ich in diesem Moment des Alleinseins ihm beichten, wie es sich mit dem Spuk in der Beletage der Karolinenlust verhielt? … Nein, ich hatte kein Vertrauen zu ihm, ich fühlte mich bis in mein warm schlagendes Herz hinein erkältet in seiner Nähe. So rückhaltlos meine ganze Seele Charlotte zugeflogen war, so wenig sympathisirte ich mit diesem Manne der kalten Berechnung – sein eigenthümlich gehaltenes Thun und Wesen, das weder bei sich selbst, noch bei Anderen ein Zuviel zuließ, stieß mich entschieden zurück. Er hatte zwar eben noch im Sinne der christlichen Liebe gesprochen – bei jedem Anderen würde ich die Worte auf innere Herzenswärme zurückgeführt haben, von seinen Lippen klangen sie mir nur als die Rüge eines leidenschaftslosen klaren Verstandesmenschen. Er hatte mich in Schutz genommen; allein, so kindisch und urtheilslos ich auch war, ich sagte mir doch, daß das nur geschehen sei, um die Uebergriffe seines Untergebenen abzuwehren. … Ich war eine viel zu beeiferte und enthusiastische Schülerin Charlottens, um nicht bei jeder Begegnung mit diesem Manne ihres Urteils über ihn eingedenk zu sein.

Jetzt gehorchte ich ihm aber und wartete geduldig, bis wir die dröhnenden Schritte des Buchhalters nicht mehr hören würden. Mechanisch schob ich den Sand des Weges mit der Fußspitze zusammen – der plumpe Schuh in seiner ganzen Häßlichkeit kam zum Vorschein; das alterirte mich gar nicht – es war ja nur Herr Claudius, der neben mir stand, und dessen Blick darauf fiel.

„Ich will gehen und die Thür wieder schließen,“ unterbrach ich das momentane Schweigen, mir fiel plötzlich ein, daß sie ja noch weit offen stand. … Ich wollle ihn um Verzeihung bitten, aber ich brachte es nicht über die Lippen.

„So kommen Sie,“ sagte er. „Ich begreife nicht, wie Sie mit Ihren kleinen Händen das alte seit Jahren verrostete Schloß haben öffnen können.“

„Das Kind –“ sagte ich und mußte bei dem Gedanken an das liebliche kleine Geschöpf lächeln – „ich wollte durchaus das Kind nahe sehen und die Leute, die so glücklich zusammen sind. Ich habe nie gewußt, wie es ist, wenn die Eltern ihre kleinen Kinder so sehr lieb haben.“

„Wie ist es Ihnen denn möglich gewesen, in das fremde Familienleben hineinzusehen?“

Ich deutete unbefangen nach dem Wipfel der Ulme, unter der wir eben hinschritten. „Da droben hab’ ich gesessen.“

Er lächelte verstohlen, und trotz der Brille sah ich, daß seine Augen an meiner linken Seite niederglitten; unwillkürlich folgte ihnen mein Blick – o weh! die rachsüchtige Ulme hatte mir ein weitklaffendes und so regelrechtes Dreieck auf meinen schwarzen Staatsrock gezeichnet, als habe sie das Winkelmaß dazu genommen.

Ich fühlte, daß ich feuerroth wurde, und wenn es auch nur Herr Claudius war, ich schämte mich doch.

„O Gott – Ilse!“ mehr brachte ich nicht heraus.

„Seien Sie ruhig, Frau Ilse darf nicht schelten – das leiden wir nicht!“ sagte er freundlich, aber auch in so protegirendem Tone, als spräche er zu dem kleinen Gretchen und das verdroß mich – so kinderklein und hülfsbedürftig war ich doch wahrhaftig nicht. … In diesem Augenblick fiel es mir so recht auf, wie ganz anders doch Dagobert war. Er behandelte mich, besonders seit er wußte, daß ich bei Hofe vorgestellt werden sollte, als völlig erwachsene Dame. „Frau Ilse hat übrigens bereits für Ersatz gesorgt,“ sagte er weiter. „Sie hat mir gestern eine Summe Geldes abverlangt zu einer Hoftoilette für Sie. … Bei dieser Gelegenheit muß ich Sie aber auf Etwas aufmerksam machen. So lange die Frau dableibt, mag sie dergleichen Angelegenheiten in den Händen behalten, später jedoch werde ich Sie bitten müssen, sich direct an mich zu wenden.“

„Muß das sein?“ fragte ich, ohne meinen Verdruß zu verbergen.

„Ja, das muß sein, Fräulein von Sassen – es ist der Ordnung wegen.“

„Nun, da hat meine liebe Großmutter doch Recht gehabt, wenn sie das Geld nicht leiden konnte. … Gott, was für Umstände, wenn solch ein paar Thaler von einer Hand in die andere gehen!“

Er sah mich lächelnd von der Seite an. „Ich werde Ihnen die Sache so leicht wie möglich machen,“ sagte er gütig.

„Aber ich muß doch um jeden Groschen in Ihr dunkles Zimmer kommen?“

„Das freilich. … Ist Ihnen denn dies Zimmer so schrecklich?“

„Das ganze Vorderhaus ist ja so kalt und grabesdunkel … wie es nur Charlotte und Fräulein Fliedner drin aushalten? … Ich stürbe vor Angst und Beklemmung!“ – Ich legte unwillkürlich beide Hände auf die Brust.

„Das schlimme alte Haus – es hat schon einmal ein Frauenleben gefährdet!“ meinte er schwach lächelnd. „Und nun ist es wohl auch schuld, daß es Ihnen bei uns nicht gefällt?“

„O, den Blumengarten hab’ ich sehr lieb!“ versetzte ich rasch, ohne seine Frage direct zu beantworten. „Er kommt mir vor wie ein ganzes Buch voll Wunder- und Zaubergeschichten! Ich muß manchmal die Augen rasch schließen und Hände und Füße festhalten, sonst – würfe ich mich unversehens mitten in solch ein Blumenbeet hinein!“

„Das thun Sie doch,“ sagte er in seiner freundlichen Gelassenheit.

Ich sah ihn überrascht an. „Na, da würden Sie doch schön schelten,“ fuhr es mir heraus. „Wie viel Bouquetgroschen gingen Ihnen da verloren! … O Gott, und wie viel Samendüten!“

Er wandte sich ab, schloß die Thür zu, vor der wir standen, und zog den Schlüssel aus dem Schloß.

„Diese Bouquetgroschen-Weisheit haben Sie wohl aus demselben Munde, der Ihnen bereits von der Hinterstube erzählt hat?“ fragte er, nachdem er den Schlüssel in die Tasche gesteckt hatte.

Ich schwieg – Dagobert’s Namen konnte ich unmöglich aussprechen, von ihm hatte ich ja diese „Weisheit“, wie es Herr Claudius mit einem ganz leisen Anflug von Bitterkeit nannte. Er drang nicht weiter in mich.

„Aber die Karolinenlust und der Wald, gefallen sie Ihnen denn gar nicht?“ fragte er.

„Es ist ganz schön hier –“

„Allein lange nicht so schön, wie in der Haide – nicht wahr?“

„Das weiß ich nicht – aber – ich habe heftige Sehnsucht nach dem Dierkhof! Ich leide oft schrecktich und ängstige mich, daß ich mir die Stirn an den vielen Bäumen einstoßen könnte.“ Die Klage trat mir fast unwillkürlich auf die Lippen. … Das hatte mich noch Niemand im Hause gefragt, sie setzten ohne Zweifel Alle voraus, daß der Tausch ein überwiegend vortheilhafter für mich sei.

„Armes Kind!“ sagte er, – nein, nein, das war keine Theilnahme! – Die Natur hatte ihm nur eine so weiche Stimme gegeben.

Wir betraten eben das Parterre seitwärts der Karolinenlust. Da stand der alte Erdmann, der neulich Ilse und mir den Eintritt in das Vorderhaus verwehrt hatte. Er hielt eine Mulde im linken Arm und streute unermüdlich Futter für das Geflügel auf den Kies. Herr Claudius schritt rasch auf ihn zu und hielt die Rechte zurück, die eben wieder einen Körnerregen hinwerfen wollte.

„Sie füttern viel zu verschwenderisch, Erdmann,“ sagte er. „Gehen Sie da hinein in den Busch, überall keimen die Körner, die die Thiere mit dem besten Willen nicht bewältigen können; ich habe es eben mit großem Mißfallen bemerkt.“ – Er griff in die Mulde und ließ die Körner durch seine schlanken Finger laufen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_691.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)