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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


auszuhalten. Man glaube es nur, sie hatte keine Zeit zu verschwatzen; denn unterwegs mußten die Bestellungen repetirt werden, um jegliche Unordnung zu vermeiden, und am Orte selbst angekommen, galt es die kürzesten Wege rasch zu finden und die Bestellungen schnell zu erledigen und für Alle – wie es das Geschäft erfordert – ein freundliches Wort übrig zu behalten. Es hat auch Niemand eine Botenfrau jemals gesehen, auf deren Stirne nicht vorwiegend der Ernst und die Besonnenheit sich gespiegelt hätten. Ich begreife darum unsern Chamisso auch heute noch nicht, warum er sein herrliches Gedicht dem Waschweibe und nicht vielmehr dem Botenweibe gesungen hat.

Doch auch von ihr, dem braven Botenweibe, müssen wir Abschied nehmen. „Denn hier,“ an der deutschen Landstraße – heißt es in Schiller’s Tell, „ist keine Heimath, – Jeder treibt sich an dem Andern rasch und fremd vorüber und fraget nicht nach seinem Schmerz.“

Da fährt ein kleiner Wagen vorüber. An der kleinen Deichsel zieht mit kräftigen Händen ein sonnengebräunter Mann in blasser Blouse, den an seiner Seite den schweren Wagen mitziehenden Hund von Zeit zu Zeit mit ermunterndem Blick und Wort anregend. Hinten am Wagen schiebt das Weib des Mannes, ein kleines Kind auf dem linken Arme tragend, während ein kaum fünfjähriges Mädchen, das sich am Kleide der Mutter festhält, nur mit Mühe nachkeucht. Die Tracht der Leute sagt uns, daß sie „auf der Rhön“ zu Hause sind, wo Jahr aus Jahr ein gar viele Familien sich aufmachen müssen, um ehrlicher Weise ein Stückchen Brod anderwärts zu verdienen; denn die Rhön birgt in ihren Bergen zum Theil die bitterste Armuth. Das über hohe Reife gespannte graue kleine Plantuch des Wägelchens ist vorn zurückgeschlagen und läßt uns den Inhalt desselben erkennen. Wer hätte sie nicht lieb gewonnen, jene rheinischen Erfrischungsgefäße, jene steinernen Flaschen, Krüge, Einmachgefäße, die wie auf dem Rheine so auch auf dem Maine weit verladen und dann auf Wägelchen – wie wir eben jetzt vor uns sehen – „in’s Land“ gebracht werden. Das sind jene bairischen „Halben“ und „Ganzen“, jene „Hafele“, die uns mit ihren Verzierungen, den Kreuzen, Sternen, Lilien etc. so seltsam anschauen, daß wir uns unwillkürlich ist das Mittelalter versetzt glauben, wenn wir, an die modernen prosaischen norddeutschen Seidel und Gläser gewöhnt, im „ Baierlande“ eine Bierhalle betreten. Noch Anderes hilft dazu, uns hier auf einige Augenblicke rücksichtlich der Zeit, ist der wir leben, zu täuschen. Die stramme Kellnerin, die zehn bis zwölf nicht leere, sondern gefüllte und noch dazu mit schweren zinnernen Deckeln beschlagene „Ganze“ mit einem Male herbeigetragen bringt, scheint uns eher in die Zeit der eisernen Arm- und Bein-, als in diejenige der Eisenbahn-Schienen zu gehören. Wie es in einem solchen bairischen Locale von allen Ständen hin und her wogt! Daran sind lediglich die bösen Tischler schuld; denn diese fertigen in Baiern für die Bierhallen lieber annexionssüchtige lange Tafeln als kleine viereckige Separattischchen – die Undankbaren, die doch ihren Namen dem Tische verdanken! Und wie voll klingt es dann im Chore, wenn nach Vertilgung der kunstgerecht zubereiteten Rettige und bei frischem „Anstiche“ die „Ganzen“ und „Halben“ mit kräftiger Hand erhoben werden, und aus tausend Kehlen der männliche Gesang der deutschen Marseillaise ertönt:

„Freund, ich bin zufrieden,
Geh’ es, wie es will!“ etc.

„Ich bin aus der Neustadt, kaufen Sie mir ab, lieber Herr! Bessern Schwamm haben Sie noch nicht gekauft!“ Und nun folgt eine ganze Reihe von stereotypen Redensarten zum Lobe des angebotenen Stückchen Feuerschwammes in jenem gedehnten, fast singenden Tone, wie er dem uns eben begegnenden Bewohner der Neustadt am Rennstiege auf dem Thüringerwalde eigen ist. Ehe wir’s uns versehen, wird uns auch wohl ein Stückchen brennender Schwamm unter die Nase gehalten. Es ist ein naives, gutmüthig keckes und doch zugleich unternehmendes Völkchen, das in dem genannten Orte seit wohl hundertundfünfzig Jahren seinen hauptsächlichen Unterhalt durch die Bereitung und den Vertrieb des Feuerschwamms suchte und bis ist die neuere Zeit auch fand. Der rothe Feuerschwamm wird von den Karpathen und aus Schweden bezogen, da derselbe in den Buchenwaldungen der Umgegend von „Schwamm-Neustadt“, namentlich in neuerer Zeit, nur spärlich gefunden wird. Nachdem man ihn mehrmals in Wasser eingeweicht und gehörig geklopft hat, wird er in einer Beize gekocht und hierauf durch Riffeln nochmals umgearbeitet und in den Handel gebracht. Es gab und giebt zum Theil noch Schwammhändler in Neustadt am Rennstiege, welche Niederlagen ihres Artikels in fast allen größeren Handelsplätzen Deutschlands und selbst der Nachbarländer unterhalten.

Die Erfindung der Schwefelhölzer aber versetzte dem alten blühenden Geschäfte plötzlich einen empfindlichen Schlag, und man berechnet, daß gegenwärtig von jenen bedeutenden Massen von Feuerschwamm, welche Neustadt am Rennstiege früher ausführte, kaum noch der fünfte Theil verfertigt wird. Die Neustädter aber ließen sich nicht aus der Fassung bringen. „Gut,“ sagten sie, „wenn Ihr unsern Schwamm nicht mehr haben wollt, so machen wir Euch Streichhölzer, wir bleiben gute Freunde!“ – Es sind nun einmal geschworene Feuerleute. Und so ziehen sie denn in allen Gegenden Deutschlands von Haus zu Haus und auf allen Jahrmärkten umher, um ihre Waaren an den Mann zu bringen, und kehren oft erst nach vielen Monaten „in die Neustadt“ zurück. Nur zur Kirchweihzeit finden sich so ziemlich Alle, wenn irgend möglich und nicht vielleicht ein böser Advocat einen dummen Wechselproceß eingeleitet hat, in der lieben Heimath wieder zusammen. Denn dem Neustädter passirt oft ohne seine geringste Schuld ein böser Streich, der ihn in Verlegenheit bringen kann. Das war auch schon früher der Fall. Zum Beweis hierfür diene folgende Mittheilung, die aus authentischen Quellen geschöpft ist.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte ein Jäger zur Anzeige gebracht, daß ein Neustädter Schwammklopfer als Wilddieb einen stattlichen Hirsch erlegt habe. Das Amt erkannte gegen den gerade auf Reisen abwesenden Schwammhändler auf acht Wochen Gefängniß. Wie aber stellte sich die Sache später heraus?

Der Neustädter ging getrost zu seinem Fürsten – denn mit einem guten Gewissen braucht man keine Furcht vor Menschen zu haben – und sagte: „Gnädigster Herr! Da hat der dumme Jager eine Anzeig’ gegen mich gemacht, daß ich soll acht Wochen sitz’. Ich hatt’ doch ein geladenes Gewehr im Haus’ und wollt’s draußen vor’m Dorf abschieß’. Und wie ich losdrücken wollt’, da kam mit einem Mal ein ganz gewaltiger Hirsch daher gefahren, daß ich nur so zuschießen mocht’. Ich dacht’ aber: Nee, der is zu gut für dich, der is für deinen gnädigsten Landesvater! Und hab’ nich geschossen. Und wie ich noch e Weil da gestanden hatt’ und wollt’ mei Gewehr nun ruhig abschieß’ und hat’s auch schon an den Backen gebracht, kam auf einmal wieder ein ganz großes Thier daher gerannt, daß ich fast erschrock und abgeschossen hätt’. Ich sagt’ aber zu mir: Nee, der is zwar nich so groß, wie der vorige Hirsch, aber für dich is er doch zu gut, der is für deine gnädigste Landesmutter! Und hab’ wieder nich geschossen. Und wie ich so noch e Weil dagestanden hatt’ und wollt’ mei Flinten nun endlich doch abschieß’, da kam mir von der Seite her nur so e ganz klein’s verkrüppeltes Ding von ein’m Hirsch gerade accurat vor’s Gewehr gelaufen, daß ich dacht: Nee, der is zu schlecht für deinen gnädigsten Landesvater und auch zu schlecht für deine gnädigste Landesmutter, den können’s nich gebrauchen! Und wie ich losdrück’, kommt der Jager accurat dazu. Und da soll ich acht Wochen sitz’! Is das Recht?“

In Folge der originellen Vertheidigung entließ der Fürst unsern Neustädter mit dem Bescheide, daß in Zukunft „die ganz kleinen und verkrüppelten Dinger von Hirschen“ – dem Erbprinzen gehören sollten, und der böse Jäger hatte das Nachsehen.

Auch der Schwammhändler „aus der Neustadt“ hat uns schon längst wieder verlassen und zieht fröhlich und getrost auf der Landstraße weiter, so daß wir nur noch seinen mittelst Armbändern auf dem Rücken befestigten gelben Ranzen von Weitem erkennen. Da – um die Ecke herum – bietet sich uns schon wieder ein anderes und nicht weniger interessantes Bild. Doch davon ein anderes Mal!

August Topf.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_690.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)