Seite:Die Gartenlaube (1871) 688.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Familienleben eingeflößt. Auch die Macht der öffentlichen Meinung betrachtete er als großen Segen und drückte die Hoffnung aus, daß Indien bald etwas Derartiges bekommen werde.

Am ausführlichsten sprach er sich über das religiöse Leben Englands aus. Das englische Christenthum sei zu sectirerisch, zu engherzig. „Sind denn die Wasser des ewigen Lebens von so geringer Quantität, daß man die Canäle, durch welche sie fließen, erst enge machen muß, damit sie tief werden? Oft ergötzte mich die patronisirende Weise, mit der Engländer und Engländerinnen mit mir sprachen. Von dem winzigen Fluß, der Themse heißt, sagten sie: ‚das ist unser Strom‘, Maulwurfshügel nannten sie Berge. In Indien giebt es große Berge und den mächtigen Ganges, und als ich in dieses Land kam, da war ich darauf gefaßt, winzige Gegenstände zu sehen. Die Häuser fand ich sehr klein und ich bemerkte mit Schrecken, daß die Häuser für die Seele noch viel kleiner sind. Meinungsverschiedenheiten sind unvermeidlich, wo Leben herrscht, aber gegen den Geist der Antipathie und des Antagonismus (des Widerstrebens und Widerstreitens) protestire ich. Das christliche Leben Englands ist ferner mehr materieller als geistiger Natur. Ueberall herrscht das Streben Gott außen zu finden in Formen, Ceremonien, Dogmen; daß der Geist geistige Nahrung braucht, bedenkt man zu wenig.“ Die einzelnen christlichen Lehren besprechend, so erklärte er sich mit der Idee Gottes als des Vaters einig. Was Christus betreffe, so muß er mit Bedauern wahrnehmen, daß derselbe nicht die rechte Verehrung finde. Man habe ihn vergöttert, ihm Ehren erwiesen, gegen die er selbst protestirt haben würde, aber die Ehre, die er wünschte, habe er nicht erhalten, nämlich die, daß er übergehe in Fleisch und Blut seiner Jünger und Nachfolger. Christus habe den Seinigen seinen Geist verheißen; von der Erfüllung dieser Verheißung sei bis jetzt wenig zu sehn. Und doch sei der wahre Christus nicht der, der vor achtzehnhundert Jahren gelebt, nicht der Christus des populären Glaubens, sondern eben der Geist. Die Christen verehren Gott nicht im Geist und als Geist, sie beten vielmehr eine Incarnation (einen Fleisch oder Mensch gewordenen Geist) an. Gott brauche kein Fleisch, um sich zu offenbaren, da er ja allgegenwärtig das ganze Universum erfülle. „Christus identificirte den Geist der Wahrheit in sich mit Gott, er wollte nicht seinen Willen thun, sondern den Gottes. Der Hindu, sofern er an Gott glaubt, ist er ein Christ. Wenn Reinheit, Wahrheit, Keuschheit, Entsagung, Selbstverleugnung christliche Tugenden sind, so ist überall, wo sie sich finden, Christenthum, ob ihr Träger nun Christ, Hindu oder Muhamedaner genannt wird. Daher kommt es, daß manche Hindus weit bessere Christen sind, als die, welche diesen Namen führen … Das Resultat meines Besuches in England ist, daß, wie ich als Hindu hierher kam, ich als befestigter Hindu zurückkehre. Ich habe nicht eine Lehre angenommen, die nicht vorher schon in meinem Geist vorhanden gewesen. Ich habe viel gelernt, aber alles zur Bestätigung meiner Ansichten von Gott … Mein Land habe ich immer mehr lieben gelernt. Englischer Patriotismus hat wie durch Electricität auch meinen Patriotismus entflammt. Aber zugleich bin ich ein Weltbürger und kann sagen, daß England ebenso meines Vaters Haus ist als Indien. Nun scheide ich von Euch, aber mein Herz wird immer bei Euch sein. England, mit all Deinen Fehlern bist Du mir doch immer theuer!“

Chunder Sen hat Schreiber Dieses versichert, daß er beabsichtigt, in einigen Jahren auch Deutschland zu besuchen, für das er seiner Philosophen wegen eine große Zuneigung habe. Wird wohl sein Urtheil über unsere socialen und religiösen Zustände erfreulicher lauten? Wenn die Vertreter der katholischen Kirche eine Lehre, die sie vor einem Jahre in den schärfsten Ausdrücken verdammten, heute mit Gewaltmaßregeln ausbreiten, wenn die protestantischen Päpste einen tüchtigen Geistlichen in Nassau absetzen, weil er in einem Formular ein paar Worte änderte, wenn die höchste Behörde der protestantischen Kirche in Berlin Erlasse ergehen läßt, die vom Judenthume in einer Weise sprechen, wie man’s im Mittelalter gewohnt war: dann hat wahrlich keine der deutschen Kirchen Grund, sich ihres Christenthums sonderlich zu rühmen. Absurde Dogmen, Fanatismus, Bornirtheit, Ketzerrichterei, Feindschaft gegen die Wissenschaft, Versuche zur Volksverdummung werden in dem Hindu einen eigenthümlichen Begriff von dem „Lande der Dichter und Denker“ erwecken. Am Ende könnte er versucht sein, kritische Einwürfe zu machen gegen die bisherige Annahme, daß in diesem Lande Kant seine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Schleiermacher seine „Reden über die Religion“ und Goethe seinen „ Faust“ geschrieben. – Hoffen wir, daß bis zu seiner Ankunft auch unsere kirchlichen Zustände sich soweit gebessert haben, daß wir uns derselben nicht mehr zu schämen brauchen. Inzwischen wünschen wir dem Reformationswerke des morgenländischen Weisen das beste Gedeihen.




Bilder von der deutschen Landstraße.[1]
3. Kleine Leute.
I.
Der Aristokrat auf der Landstraße und der Handwerksbursch. – Der commis voyageur einst und jetzt. – Ein Leipziger Banquier und ein Meßfremder im Rosenthale. – Das ehemalige Reisen zur Handelsmesse und die Meßgeschenke. – Die Botenfrau und Thurn und Taxis. – Die prosaischen Briefträger der Neuzeit und der Dichter Chamisso. – Rheinische Erfrischungsgefäße und Leute von der Rhön. – Die bairischen „Ganzen“ und „Halben“. – Annexionssüchtige Tischler in Baiern. – Die deutsche Marseillaise. – Feuerleute aus Neustadt am Rennstiege. – Der Schwammklopfer und der Herzog von Hildburghausen.


Nur der große, sofort in die Augen fallende Verkehr ist den Eisenbahnen geworden; ein Theil des kleineren und stilleren Verkehrslebens, das Anhaltepunkte von Ort zu Ort sucht und findet, zieht auch jetzt noch auf der alten Landstraße weiter, zum Theil selbst parallel mit dem Schienenwege.

„Aristokratie muß sein!“ Folglich auch auf der Landstraße unter der Menge von sogenannten kleinen Leuten, die hier an unserem Blicke vorüberziehen. Auf der Landstraße wird die Aristokratie repräsentirt durch eine gewisse Kategorie der Species des modernen Commis voyageur, wobei wir uns also ausdrücklich dagegen verwahren, als ob wir diese Herren zu den „kleinen Leuten“ zählten oder sämmtliche in eine einzige Classe zusammenzuwerfen gesonnen wären. Man hört zwar an manchen Orten und selbst aus dem geschäftlichen Stile der Herren Principale heraus immer noch den mehr als anstößigen Ausdruck „Reisender“. Es wird aber hohe Zeit, diese durchaus unpassende Bezeichnung endlich fallen zu lassen, weil außerdem der Handwerksbursch, der heutzutage meist auch in nicht viel mehr Häusern zuspricht, als mancher Commis voyageur, genöthigt wird, sein „Entschuldigen Sie, ein Reisender!“ mit einer anderen Wendung zu vertauschen. Eingewickelt in den obligaten, oft nur auf einige Wochen erborgten Pelz, den Schnarr- und Knebelbart zwar mit Aufopferung von Zeit und „Mitteln“, doch zur eigenen hohen Befriedigung in die vollendetsten martialischen Wölbungen und Linien gezogen, sitzt er, unser Reisender, unnahbar und selbstgenugsam in die Wolken einer echten Havanna gehüllt, – denn nur eine solche raucht er, – in dem neuaufgeputzten Reisewagen seines „Hauses“ oder auch in dem gemietheten Gefährte eines Hauderers, der gegen ein nicht zu hohes Trinkgeld gern seinen eigenen Rock auf einige Wochen in den Kleiderschrank hängt, um den wohlbetreßten, mit Aufwand von Putzpulver in seinen Knöpfen funkelnden und außerdem mit einigen Quadratfuß rothen Tuches eingefaßten Rock des „Burschen“ anzuziehen. Mit welchem Avec der Reisende in dem kleinen Landstädtchen aussteigt, wenn der Kellner in Gestalt eines Hausknechts den Chaisenschlag öffnet! So etwas will gründlich erlernt sein. „Jott bewahre! Des is man Routine, weiter nischt!“

Das ihm angeborene aristokratische Naturell documentirt unser Herr Reisender ferner durch die Art, mit welcher er auch dem kleinsten Krämer in dem unbedeutendsten Orte heutzutage die Artikel, in denen er „macht“, zu offeriren und auch ohne

  1. S. Jahrg. 1864, Nr. 17, 44, 47 und 49.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_688.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)