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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


vertreten. Andere hatten ihre Sympathien schriftlich erklärt, zum Beispiel der Herzog von Argyll, Trevelyan, Stuart Mill, Grant Duff, Max Müller. Der gelehrte und liberale Decan der Westminsterabtei Dr. Stanley eröffnete die Versammlung mit einer glänzenden Rede, in welcher er insbesondere den indischen Gast aufforderte, sich nicht an der Mannigfaltigkeit der englischen Kirchen und ihrer Benennungen zu stoßen, sondern die Idee des allgemeinen Christenthums, das unabhängig von den verschiedenen Differenzen sei, zu erfassen. Das Christenthum eines Bacon[WS 1], Shakespeare, Walter Scott brauche keine speciellen Vorschriften, kein specielles Bekenntniß, um es zu empfehlen. Und was die einzelnen Kirchen betreffe, so sei jede nur in dem Grade groß und achtungswerth, als sie im Stande sei, das Große und Achtungswerthe an anderen Kirchen anzuerkennen. (Worte, die sich unsere deutschen Kirchenlichter auch etwas merken dürften.)

Chunder Sen trat nun selber auf und sprach zunächst seine Anerkennung der Verdienste der britischen Regierung im Namen von hundertachtzig Millionen seiner Landsleute aus. „Als Indien daniedergesunken lag im Schmutze des Götzendienstes und des Aberglaubens, als muhamedanische Unterdrückung und Mißregierung beinahe den letzten Funken von Hoffnung in den Herzen der Eingeborenen erstickt hatte, als die Priester übermäßig mächtig waren und in ihren Triumphen schwelgten über der niedergetretenen Menschheit – da sandte Gott in seiner Gnade die britische Nation, um Indien zu erlösen. England klopfte an die Thore Indiens und rief: ‚Edle Schwester, stehe auf, du hast schon zu lange geschlafen!‘ … Ein Strom öffnete sich, der England und Indien intellectuel, social, moralisch und religiös verband, und alle die hohen und freien Ideen des Westens kamen durch diesen Canal nach dem Osten. Eine wunderbare Aenderung bereitet sich vor. Ihr sehet eine neue Nation sich erheben mit neuen Bestrebungen, Zielen, Speculationen. Euer Shakespeare, Milton, Newton sind nun auch die Unsrigen geworden. Wir können nun mit Euch sympathisiren in all Euren reingeistigen Bestrebungen.“

Zuletzt kam Sen auch auf die Stellung seiner Partei zum Christenthum zu sprechen. Er sprach seinen Dank gegen die Missionäre dafür aus, daß sie sein Volk mit der Bibel bekannt gemacht, ein Buch, das er so hoch schätze wie die heiligen Schriften des eigenen Volkes. Das Christenthum selbst, so manche Vorurtheile ihm auch noch entgegenstehen, erwerbe sich immer höhere Achtung. Der Ursprung desselben sei ein orientalischer gewesen, darum fühle sich der indische Geist ihm verwandt. „Indien wird, das glaube ich fest, einst den Geist Christi aufnehmen. Aber ich kann nicht dasselbe sagen in Betreff der Lehren und Dogmen, die Ihr Indien dargeboten. Schon die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Kirchen und Secten richtet Verwirrung an. Wenn ein Hindu auch zu einer dieser Parteien übergetreten ist, so kommt er mit dem Missionär einer andern Kirche in Berührung, und seine Ansicht wird wieder schwankend … Was dagegen die centralen Lebenswahrheiten betrifft, die Christus verkündete: ‚du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüth‘, und ‚du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘, so wird es keinen Mann in ganz Indien geben, der auch nur für einen Augenblick seine Zustimmung zu solchen Lehren verweigern würde … Schickt uns daher statt Missionären, die endlose unverständliche Dogmen predigen, vielmehr Männer und Frauen, die durch ein edles christliches Leben einen heilsamen Einfluß auf die ganze Umgebung bilden und die schädlichen Beispiele so vieler Namenchristen abschwächen.“ Zum Schlusse erklärte er, daß er nach England gekommen, nicht um die Lehren des Christenthums kennen zu lernen, sondern wirkliches christliches Leben, den Geist christlicher Menschenliebe und Aufopferung zu studiren. Es sei seine Ueberzeugung, daß England eine große Nation geworden nicht allein durch Handel und Gewerbe, sondern durch den heiligen Einfluß einer Leben gebenden Religion. Ferner sei er hierher gekommen, um einigen Beschwerden seines Volkes abzuhelfen. „Ich hoffe, Ihr werdet meine demüthige Fürsprache für mein theures Vaterland erhören – für das Land, das immer das reichhaltige Thema von Philosophen, Alterthumsforschern, Dichtern, Theologen und Novellisten gewesen, das die Bewunderung aller Jahrhunderte erregt hat, das Land unerschöpflicher physischer und geistiger Hülfsquellen, das Land zahlloser Racen und Stämme, endlos verschiedener Sprachen und Religionen, Sitten und Gebräuche; das Land, wo der übersinnlichste Pantheismus (der Glaube, daß die Welt, das Weltall, selbst die Gottheit sei), der reinste Monotheismus (Ein-Gottglaube) und das riesenhafteste System von Abgötterei zusammen regieren, das Land, das sich einer uralten hohen Civilisation rühmt und das bestimmt ist, eine noch ruhmvollere Zukunft zu haben … Ich wünsche nicht den oberflächlichen Schimmer der Civilisation, die Formalitäten äußerer Bildung, laßt mich eindringen in die innersten Tiefen Eurer Herzen. Gebt mir etwas Edleres als Annoncen, die für den Fremden quälende Proben Eures äußern Wohlstandes, sind … Bringt mir Euren ganzen Enthusiasmus entgegen für das große Werk der Wiedergeburt Indiens.“

Diese herzliche sympathische Aufnahme wurde denn auch Sen in großartigstem Maße zu Theil. Geistliche der verschiedensten Kirchen stellten mit einer in Deutschland unbekannten Liberalität ihm ihre Kanzeln zur Verfügung, alle philanthropischen, gelehrten, religiösen Vereine luden ihn zu ihren Jahresfesten, die Städte Englands und Schottlands wetteiferten miteinander um die Ehre seines Besuchs. Da er bei all diesen Gelegenheiten zu sprechen hatte, so wurde seine Gesundheit so angegriffen, daß er sich einige Zeit an die schottischen Seen zurückziehen mußte. Er hatte im Sinn, im Herbst durch Frankreich, Deutschland und Italien nach Hause zu reisen, allein des ausgebrochenen Kriegs wegen sah er sich genöthigt, auf diesen Plan zu verzichten. Am 12. September 1870 wurde die officielle Abschiedsfeierlichkeit gehalten, die trotz der Reise- und Badesaison zahlreich besucht war. Männliche und weibliche Redner sprachen dem scheidenden Gaste ihren Dank und ihre Sympathien aus und forderten ihn auf, zu berichten, welchen Eindruck England auf ihn gemacht.

Sen begann zunächst mit einigen Aeußerlichkeiten: „Das Erste, was mir in die Augen fiel, war der Glanz Eurer Kaufläden; ihre Menge erregte mein Staunen. Ich dachte, die Engländer müssen eine Nation von Krämern sein, und wenn Jedermann verkauft, wo sind dann die Käufer? Sodann beunruhigte mich die emsige Thätigkeit des Engländers. John Bull’s Leben scheint sich in seiner rechten Hand zu concentriren. Er arbeitet und arbeitet und kann nicht leben für etwas wie Betrachtung und Nachdenken. Er ist wie Hamlet’s Geist, hier, dort, überall, immer sich herumbewegend. Ein englisches Diner ferner kommt mir vor wie eine Jagdpartie, und was mich in dieser Anschauungsweise bestätigt, ist die Thatsache, daß Damen immer vorher den Schutz von Herren suchen, ehe sie in den Speisesaal treten, falls etwa ein Unfall sich ereignen sollte. Dann gehen sie einher, bewaffnet mit Löffeln, Gabeln und Messern, um die Vögel unter dem Himmel, die Thiere der Wildniß und die Fische des Meeres, die auf dem Tische versammelt sind, anzugreifen. Ich schauderte am ganzen Leibe, als ich diese ungeheuern Stücke englischen Roastbeefs sah. Endlich noch zwei Worte über Damenkleidung. Vielleicht will John Bull das nicht dulden, aber ich gehöre zu Denen, die glücklicher oder unglücklicher Weise nicht an die Unfehlbarkeit eines Mannes oder eines Weibes glauben. Die Modedame ist wirklich ein eigenthümliches Geschöpf. Ich hoffe, sie wird niemals in Indien erscheinen. Besonders sind es zwei Dinge, gegen die ich Einwendungen habe: Kopf und Schwanz. In diesen Tagen, wo überall eine große und ernste Agitation für die Rechte der Frauen sich erhebt, da solltet Ihr Herren vortreten und sagen: ‚Frauen haben kein Recht, mehr Raum einzunehmen als Männer‘. Es ist factisch, daß eine civilisirte und feine Dame des Westens fünfmal so viel Raum einnimmt als ein Herr. Das schöne Geschlecht sollte billig sein. Und was den Kopf betrifft, so glaubte ich anfangs, daß das Haar auf den Köpfen der Frauen in England und in europäischen Ländern überhaupt weit länger sei als auf den Köpfen der indischen Frauen. Aber ich habe mir sagen lassen, daß unter diesen kolossalen Haarpyramiden ein Geheimniß steckt, das keine nähere Untersuchung leiden kann. Ich meine, gebildete und verständige Frauen der Gegenwart könnten künftighin eine bessere Probe von der Fruchtbarkeit ihres Gehirns geben …

Mit Ueberraschung bemerkte ich eine Institution, die ich in diesem Lande nicht erwartete – die Kaste. Eure reichen Leute sind Braminen und Eure Armen sind Pariahs. Betrübt hat es mich ferner, daß Eure Regierung die zwei größten socialen Uebel der Gegenwart, Trunkenheit und Prostitution, indirect, wenn nicht gar direct durch gesetzgeberische Acte ermuthigt.“

Dagegen drückte Sen seine Bewunderung aus, die ihm die großartige Wohlthätigkeit Londons und das glückliche englische

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Baco
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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 687. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_687.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)