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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


In der Galerie.
Von Hermann Oelschläger.


Auf mich, den Erfahrenen, liebliches Kind,
Auf den Rath hör’, den ich ertheile:
Entflieh’ dem Verderben, enteile geschwind –
Der Knabe vor Dir – Du siehst Dich ja blind –
Gott Amor ist’s mit dem Pfeile.

Gott Amor, der kleine, der schelmische Held,
Der listigste aller Verschwörer,
Der scheu seit Jahrtausenden ringsum die Welt
Beglückt und betrügt, je nachdem’s ihm gefällt,
Der Herzen- und Seelenbethörer.

Du lächelst? Du glaubst mir nicht an die Gefahr?
Du meinst, ich scherze und spiele?
O warte Du nur noch ein winziges Jahr,
Dann schwirrt schon der Pfeil – Du nimmst ihn kaum wahr
Und sicher doch eilt er zum Ziele.

Er trifft und er bohrt sich im Busen Dir ein
Und wühlt Dir im innersten Herzen,
Du lachst und Du weinst, Du willst Dich befrei’n
Und drückst Dir den Pfeil nur stets tiefer hinein,
Du zitterst in wonnigen Schmerzen.

Vorbei ist der kindische Zeitvertreib –
Wenn der Seele Schwingen sich regen,
Reifst Du zur Jungfrau, reifst Du zum Weib,
In heimlicher Sehnsucht drängt Dein Leib
Dem bräutlichen Kusse entgegen.

Das ist Gott Amor, der fürstliche Held,
Mit seinem klingenden Pfeile,
Das Kind, der Erlöser, der Herrscher der Welt –
Nimm Dich in Acht: wenn der Bogen ihm schnellt,
Dann sei Dir’s zum Glück und zum Heile.

Doch Dir lächelt der Gott; drum sei auch nicht bang,
Und glaub’ an der Liebenden Orden,
Werde, wenn schwirrend der Pfeil Dir erklang,
So glücklich wie der, der die Verse hier sang,
Glücklich durch Liebe geworden.




Ein Weiser aus dem Morgenlande.


Die Gartenlaube hat schon so manchen Kämpfer für Freiheit und Wahrheit aus alter und neuer Zeit, aus der Nähe und aus der Ferne dem deutschen Volke vorgeführt, darum darf hier wohl auch eines Mannes erwähnt werden, der im fernen Osten für die höchsten Güter der Menschheit streitet und arbeitet, des indischen Philosophen und Reformers Baboo Keschub Chunder Sen.

Das Christenthum findet bekanntlich in Indien trotz der zahlreichen Missionäre, die die Europäer ausschicken, und der Unsummen von Geld, das die Missionsfreunde aufwenden, äußerst wenig Anklang. Die Ursachen sind verschiedene. Es ist einmal das beschränkte dogmatisch-pietistische Christenthum, das in unseren Missionsanstalten den Leuten eingetrichtert wird, in Indien wie in Europa nur geeignet, auf jeden vernünftigen Menschen eine abstoßende Wirkung auszuüben. Ferner mußte das Christenthum, das die ersten christlichen Beherrscher und Eroberer Indiens praktisch bethätigten, in den Eingeborenen die Ueberzeugung erwecken, daß Christenthum identisch sei mit Meineid, Habsucht, Wollust, Grausamkeit. Was Wunder, wenn sich die höheren Classen gegen fremde Cultureinflüsse sträuben. In neuerer Zeit hat sich die Sache jedoch wesentlich gebessert. Durch Gründung von niederen und höheren Schulen hat die englische Regierung europäische Bildung in die weitesten Kreise geleitet, die indische Nation beginnt von ihrem jahrtausendelangen Schlaf zu erstehen und ein merkwürdiges Leben beginnt überall sich zu regen, das eine bedeutende Zukunft verspricht. In Reden, Zeitschriften und Büchern giebt das „junge Indien“ sein Bestreben kund, auf Grundlage der europäischen Cultur eine indische nationale Wissenschaft und Religion zu gründen. Der Anstoß zu diesen Bestrebungen datirt sich auf ungefähr fünfzig Jahre zurück. Um diese Zeit kamen in Calcutta zwei Männer zusammen, denen die Hebung Indiens am Herzen lag, der Engländer David Hare und der europäisch gebildete Hindu Rajah Ram-Mohun-Roy. Der Erstere war von dem Plane beseelt, das Land durch Schulen und Collegien zu reformiren, der Letztere meinte, daß Schulen und Collegien nicht genügen, sondern daß der Einfluß eines reineren Glaubens nothwendig sei. Das Resultat dieser Berathungen war, daß, während einerseits ein Hinducollegium errichtet wurde, dem mit der Zeit ähnliche Einrichtungen folgten, andererseits die Brahmo-Somaj oder die indische Kirche mit dem Glauben an einen Gott entstand. Der Zweck ihres Gründers Ram-Mohun-Roy, den man schon den indischen Luther genannt hat, war der: die ursprüngliche reine Hindureligion wieder in’s Leben zu rufen. Die Reform sollte also wie beim deutschen Protestantismus zunächst reine Restauration des Ursprünglichen sein und zwar in engem Anschluß an die alten heiligen Schriften, die Vedas. Durch zahlreiche Citate aus diesen alten Hinduschriften gelang es dem Gründer der Brahmo-Somaj, eine große Anzahl seiner Landsleute davon zu überzeugen, daß der echte Hinduismus nicht mit den späteren Puranas zusammenfalle, welche Abgötterei und Aberglauben lehren, sondern daß derselbe nichts Anderes meine, als Verehrung des einen wahren Gottes.

Trotz aller Verfolgungen und aller priesterlichen Bannflüche schritt Ram-Mohun-Roy immer weiter auf der Bahn der Reform. Ja er wagte es sogar, dergestalt mit allen indischen Traditionen zu brechen, daß er eine Reise in das von ihm so hoch verehrte England unternahm. Leider verhinderte ihn der Tod, zurückzukehren und sein Werk zu vollführen.

Der Prophetenmantel der Brahmo-Kirche fiel nun auf die Schultern eines jungen Gelehrten, der das Werk noch über die Grenzen, die ihm sein Gründer gesetzt, hinausführen sollte, und dies ist eben Baboo-Keschub-Chunder-Sen. Mit ihm trat der indische Protestantismus in sein kritisches, rationelles Stadium. Die Lehre von der Unfehlbarkeit der heiligen Schriften (Veden) wurde aufgegeben. Sen erkannte bald, daß die Veden in Verbindung mit manchen schönen Wahrheiten auch einige der schlimmsten Formen von Naturdienst, einige absurde Lehren und Gebräuche enthalten. Und statt, wie es so viele deutsche Theologen prakticiren, durch geschickte Erklärung alles Anstößige hinwegzudeuteln, hatte der junge Hindu soviel moralischen Muth und soviel Wahrheitssinn, um offen mit der Autorität der heiligen Bücher zu brechen. Trotz der unvermeidlichen Folge, daß sie damit die Sympathie eines großen Theils ihrer Landsleute verloren, ließen die Brahmoisten doch die Veden ganz und gar in den Hintergrund treten und ergriffen die kühnere Position als reine philosophische Gottbekenner (Theisten). Zugleich gingen sie zum Angriff gegen den Hinduismus mit allen seinen moralischen und socialen Uebeln über. Auf das Entschiedenste wurde insbesondere mit der Kaste gebrochen. Oeffentlich speisen Leute aller Kasten zusammen, mancher Bramine hat schon ein Weib aus der niedrigen Kaste der Sudras genommen und umgekehrt. Auch die Wiederverheirathung von Wittwen wird befördert. In Calcutta und Umgegend, bald noch in ferneren Theilen Indiens erheben sich zahlreiche Gotteshäuser, in welchen diese reine dogmenlose Religion der Gottes- und Menschenliebe gepredigt wird. Zum Entsetzen der altgläubigen Hindus haben auch die Frauen das Recht, an diesem Gottesdienste theilzunehmen. Ueberhaupt haben die Brahmoisten gleich von Anfang an erkannt, daß sociale und religiöse Reformen hauptsächlich durch Bildung und Hebung des weiblichen Geschlechtes bewerkstelligt werden müssen.

Die englische Regierung leistet dieser Bewegung jeden möglichen Vorschub; der frühere Gouverneur Lord Lawrence stand in intimem Verkehr mit Chunder Sen, und er war es auch, der denselben zu einem Besuche in England veranlaßte. Derselbe fand im vorigen Jahre statt und hat in England großes Aufsehen erregt.

Am 12. April 1870 wurde der indische Reformator in stattlicher Versammlung begrüßt. Geistliche der verschiedenen Kirchen, politische und wissenschaftliche Größen waren zahlreich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 686. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_686.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)