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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Es hatte geregnet, man konnte rundum keine Spur mehr sehen, daß ich drunten bei der Leiche gewesen war. Es ließ sich glauben, daß er aus Versehen in der Nacht hätte stürzen können, auch wußte man, daß ihn alle junge Bursche haßten, und nach meiner Abreise war er ja noch gesehen worden. Ich konnte hoffen, daß mich kein Verdacht treffen würde.

Als ich in New-York ankam, merkte ich bald, daß man unter den Amerikanern es zu nichts bringt, wenn man nicht englisch kann. Ich suchte also unter die Deutschen zu kommen und ging nach dem Staate Ohio. In Cincinnati traf ich einen Deutschen aus Pennsylvanien, dessen Vorväter schon vor hundertfünfzig Jahren eingewandert waren. Der gefiel mir, er redete mich, wie sie drüben in Pennsylvanien thun, gleich mit Du an; nur das ärgerte mich, daß er mir immer sagte: ‚Wir Pennsylvanier sind Deutsche, Du bist kein Deutscher, Du bist nur ein Deutschländer!‘ Aber wir kamen doch bald miteinander zurecht. Er hatte im Herzen von Ohio, mitten zwischen Cincinnati und Cleveland, eine junge Farm mit noch viel Urwald gekauft und dingte mich als ‚Help‘, wie die Amerikaner sagen. Ich bekam sogleich sechsmal soviel Lohn, als ich auf der Ahr verdiente. Er verstand sein Geschäft eben wie ein deutscher Pennsylvanier, und bei ihm lernte ich, wie und warum man in Amerika das Feld und das Vieh anders behandelt und behandeln muß, als bei uns drüben in Deutschland. Das Eine Jahr bei meinem Meister hat mir hernach mehr genutzt, als alle meine Arbeit für Andere drüben. Man lebte da ganz einsam im Walde, sah keinen Menschen und konnte, auch wenn man es gewollt hätte, kein Geld ausgeben. Ich hatte noch erspartes Geld von heim genug; als am Ende des Jahres mein Herr seine Frucht verkaufte und mir meinen Lohn gab, war ich reicher, als ich selber geträumt hatte.

Drinnen aber in meinem Gemüth – da ging es schlimmer und schlimmer. Anfangs dachte ich oftmals, sie könnten mich doch noch am Ende finden. Nachts träumte mir wohl, es käme aus dem Wald auf die Pflanzung heraus eine Abtheilung meiner Cameraden vom Militär, sie rissen mich vom Pflug, legten mir Handschellen an und schleppten mich nach Europa zurück. Doch schwand diese Angst bald: meinen Namen hatte ich zur Vorsicht verändert, meinem Paß an einem sichern Ort im Stall gut versteckt, auch ließ ich mir den Bart wachsen. Und wenn wirklich drüben ein Verdacht auf mich gefallen war, wie hätten sie meine Spur finden können unter den Millionen von Deutschen in der weiten Union und bis in die tiefen Wälder hinein?

Also das drückte mich nicht mehr; aber je mehr ich des Lebens mich sicher glaubte, desto mehr fühlte ich, daß dieses Leben mir nichts mehr werth war.

Mein Herr und ich waren anfangs auf der Farm mit dem Vieh ganz allein; später lebte noch ein Negerjunge bei uns, den sein Herr in Kentucky schlecht behandelte; er war entlaufen und hatte sich in einer dunklen Nacht auf einem Kahn über den Ohio gerudert. Er kam bettelnd auf die Farm, mein Herr nahm ihn aus Barmherzigkeit auf, und er war gut zu brauchen, denn er kochte ganz ordentlich, molk die Milchkuh und hielt die Wirthschaft sauber. Von ihm habe ich erfahren, wie es drunten in dem Süden hergeht, und darum habe ich immer wider die Sclaverei geredet und gethan. Der Negerbub blieb fast immer daheim bei den Hausgeschäften, wenn wir Männer auf dem Feld arbeiteten oder den Wald aushieben. Letzteres fiel mir am meisten zu, und zwischen den hohen schönen Bäumen, wie sie in Ohio wachsen, war ich tagelang mit meiner Holzaxt ganz allein. Sieh, Aloys, wenn ein Mensch, der so einen Stein, wie ich, auf dem Gewissen hat, unter andern Menschen lebt und seine Herzensangst wegreden kann, das geht noch; aber allein sein in der Wildniß mit dem eignen verzagenden Herzen und, wie geschrieben steht, mit allen den Gedanken, die sich unter einander entschuldigen und verklagen, das ist nicht auszuhalten. Es giebt keine Gespenster, das glaube ich fest, und wer todt ist, kömmt auch als Geist nicht wieder, aber drinnen in Herz und Hirn leben sie fort, die Todten, und das ist schlimmer, als wenn sie in eigner sichtbarer Gestalt kämen mit dem Leichenhemd, und man könnte ihnen entgegentreten mit dem lebendigen Lebensblut in den Adern. So stieg auch mir jener schreckliche Todte aus meinem eignen Innern immer wieder empor. Wenn Abends in der Dämmerung ein Eichhorn vom Baum in’s Moos sprang, wenn ein Reh durch’s Unterholz setzte oder ein Steinbeißer durch die dürren Blätter schlüpfte, so zitterte ich; am schrecklichsten aber war der hohe Mittag im Sommer, wo Alles in der Natur eine Stunde ruht, wo selbst die Mücken unter den Blättern rasten und kein Laub noch Halm sich regt. Dann wollte auch ich rasten nach der Mahlzeit und eine Stunde schlafen, aber es ging nicht, denn in dieser Stille malte mir die Einbildung wieder den todten blassen Mann mit der tröpfelnden Ader, als sähe ich ihn vor mir, und die furchtbare Minute des Ringens und den Einen unbarmherzigen Fußtritt, der mich zum Mörder gemacht hatte. Dann sprang ich auf und schrie vor entsetzlicher Angst laut in den stillen Wald hinein, um nur wieder eine Stimme zu hören in dem gespenstigen Schweigen!

Dieser Sommer entschied über mein Schicksal. Aus dem Katechismus kannte ich die Lehre, daß, wer Blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden, und der Pfarrer hatte uns Beispiele von Mördern erzählt, die sich freiwillig dem Richter angaben, nur um die Seelenpein los zu werden. Wir Kinder glaubten diese Geschichten nicht – jetzt wurden sie mir alle lebendig. Gott, so meinte ich, der für die Sünden der Welt seinen Sohn opferte, verlangte ein Sühnopfer für alles Menschenblut. Wenn diesem Gesetz genügt ist, kommt wieder Frieden in’s Menschenherz. Meine Träume wurden ruhiger: ich sah mich vor dem Schwurgerichte in Köln, Alles von meiner Seele wälzend, was mich drückte; ich fühlte, wie sie mich auf’s Brett schnallten und unter’s Fallbeil schoben – ich empfand den Schnitt des Beiles und zuckte nicht mehr dabei. Immer mehr gewöhnte ich mich an diesen Gedanken, er wurde mir vertraut in seiner Schauerlichkeit, und zuletzt siegte er im Kampfe meiner Seele vollständig. Als die Ernte vorbei war, nahm ich den Lohn von meinem Herrn, suchte meinen Paß aus dem Versteck, fuhr nach New-York und nahm auf dem Paketboot Passage nach Antwerpen.

Wieder kehrte ich in dem kleinen Wirthshaus unweit Köln ein, diesmal für die Nacht. Am Morgen ging ich ab, um Mittags in mein Dorf zu kommen und auf dem Amt mich anzugeben. An der Stelle meines Verbrechens ging ich scheu vorüber, das Kreuz stand noch auf dem Felsengrat wie das Jahr vorher, die Weinberge hatten wieder ihre gelben Blätter, die Trauben färbten sich wie damals. Ich sah, daß auf der Wiese wiederum das zweite Heu geschnitten war, und quer durch die Wiese schritt ich zu meinem Dorf hinunter, wie hundertmal zuvor.

Es war gerade in der Underzeit, die Mäher saßen mit den Mädchen im Heu, manche hielten den Mittagsschlaf. Ich kannte die Meisten und grüßte im Vorübergehen. Sie sahen neugierig und lachend auf meinen hinterwälderlichen Blanketrock, aber aus der Art des Wiedergrüßens konnte ich abnehmen, daß keiner mich mehr erkannte. Die Arbeit in der gesunden wilden Waldluft hatte mich breitschultriger gemacht, und weil ich trotz allem inwendigen Leid in Amerika gelernt hatte, was ein Mann werth ist, schritt ich strammer und stracker daher, auch machte der Bart mich unkenntlich.

Das Dorf lag jetzt hart unter mir, in einer Viertelstunde war mein Schicksal entschieden.

Da sah ich in einem kleinen eingehegten Wieschen unter einem schattigen Birnbaum eine Person auf einem Haufen Heu sitzen und einem Wickelkind schenken. Das Wieschen kannte ich, es gehörte einer ganz armen alten Frau im Dorf, die nur ein Stückchen Krautland bei ihrem Häuschen und eine Geis im Stall hatte, die sie von dieser Wiese nährte. Aber die Person war nicht die alte Frau, sondern Jemand ganz anderes. Ich trat an den Zaun, wo ich ihr Angesicht von der Seite sehen konnte. O, es war sehr blaß und kränklich, dies Angesicht – aber durch all die Verwüstung hindurch erkannte ich die Augen, ist denen einst alle meine Lust gewesen war. Das Herz that mir einen Freudensprung; ohne daß ich es wollte, rief ich leis über die Hecke hinüber: ‚Anna!‘ Sie sah sich erschreckt um, sie erkannte mich an der Stimme, dann wandte sie ihre Augen auf’s Kind und fing bitterlich zu weinen an.

Ich glaube, Aloys, daß der barmherzige Gott das willige Opfer meines Lebens angesehen hat, als hätte ich es wirklich dargebracht, und wie er den Engel dem Abraham schickte, daß er seinen Sohn nicht tödtete, so hat er mir als Engel dazumal die Anna über den Weg geführt. Denn nun sollst Du es wissen, Aloys – das Wickelkind warst Du, und der Mann, den ich getödtet hatte, war Dein Vater!“

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 684. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_684.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)