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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 41.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Sühne durchs Leben.

Von Gottfried Kinkel.
(Fortsetzung.)


Der Capitain stand vornüber gebückt, die Augen zur Erde geschlagen, sprachlos. Aber als fühlte er die Blicke der Versammlung wie Stiche, die in sein Inneres drangen, richtete er sich stramm und militärisch auf, sah schweigend umher und sprach mit fester Stimme „Ich fürchte das Gericht des wahrhaftigen Gottes und will nicht Schuld mit Schuld gut machen. Nachbarn, ich habe daheim einen Mann ermordet, und wenn Ihr mein Leben seither unter Euch für keine Buße haltet, so wählt mich nicht zum Diener der Gerechtigkeit!“

Die Worte waren fest und klar gesprochen. Aber wie der schon ergrauende Mann die Angesichter um sich weiß werden und die Nachbarn aus seiner Nähe zurücktreten sah, da durchfuhr ein Zittern seinen kraftvollen Bau. Aloys faßte ihn unter den Arm; er wandte sich nach der Thür und wankte mit dem Knaben seinem Hause zu. In das Meeting war keine Ordnung mehr zu bringen, Jeder sprach mit seinem Nachbar, ein Redner hätte keine Hörer mehr gefunden. Der Präsident bedeckte sein Haupt und erklärte die Wahlversammlung auf morgen früh neun Uhr vertagt. –

Als der Capitain mit Aloys in sein Haus trat, war es später Abend und Zeit zum Nachtessen. Die älteste Tochter trat ihm freundlich entgegen und setzte ihm den Stuhl an den Tisch. In das friedliche Haus war die Schreckenskunde noch nicht gedrungen, und daß der Vater oft ernst und still dasaß, waren die beiden Kinder gewohnt. Er aß und trank nicht, die Kinder endeten das Mahl, die kleinen Mädchen küßten ihn und gingen zu Bett. Als aber Aloys ihm die Hand zum Nachtgruß bot, sagte er leise: „Geh’ Du nicht schlafen, sondern wenn Alles im Hause zur Ruhe ist, da komm’ zu mir hier in die untere Stube, ich habe mit Dir zu reden.“

Aloys nahm das Licht schweigend vom Kaminsims und ging hinter den anderen Kindern die Treppe hinauf.

Der Capitain trat an das Brett über der Thür, langte die Bibel herunter und legte sie auf den Tisch. Sie schlug sich von selbst auf an einer Stelle, wo beide Blattseiten rechts und links vom Gebrauch gebräunt und von Thränenspuren befleckt waren. In mancher Nacht hatte er Einen Vers, der auf diesem Blatte stand, aufgeschlagen und aus ihm Schmerz und Trost gesogen.

Als Katholik geboren und wenig mit der Bibel bekannt, hatte er in Amerika sie schätzen gelernt. Der Yankee nimmt in die Hinterwälder seine Axt, seine Büchse und seine Bibel mit. Das Alte Testament im Leben der Patriarchen hat Vieles, was in den Urzuständen der neuen Ansiedlungen sein Spiegelbild findet.

Auch heute brannten die Augen des gebeugten Mannes sich auf den Einen Vers ein; er faßte die Bibel mit der Hand und legte den Finger unter den Vers, als wollte er sich sinnlich versichern, daß dessen tröstender Inhalt ihm nicht zerrinnen könne und wirklich in Gottes Wort stehe. Es war das tiefe Wort des Propheten: „Der Herr hat nicht Lust am Tode des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“

Der Mann las den Vers murmelnd; er las ihn noch einmal; er las ihn zum dritten Male mit lauter Stimme; dann legte er Hände und Haupt auf die Bibel, und die Spannung seiner Seele löste sich in Thränen, welche die alten Thränenspuren im Buche auffrischten. Jetzt schlug die Schwarzwälder Uhr auf dem Kamin zehn; der hölzerne Vogel auf ihr schwang seine Flügel, und gleichgültig, wie bei allem Schmerz und aller Lust seiner Hausgenossen, schrie er sein lustiges Kukuk. Aloys kam die Treppe herunter, der Mann hob den Kopf von der Bibel und betete leise. „Herr, sei mit mir in dieser Stunde.“

„Setz’ Dich!“ sagte er zu dem eintretenden Sohn.

„Nein,“ antwortete Aloys, „laßt mich stehen vor Euch, weil Ihr redet!“

Er lehnte sich gegen den Tisch und schlug die Ellenbogen übereinander, ruhig abwartend, was der Vater ihm zu sagen hätte.

„Aloys,“ sprach dieser, „die Stunde zwischen Dir und mir ist eher gekommen, als ich dachte. Wenn Du achtzehn Jahre alt wärst, da wollte ich reden. Jetzt muß es gleich geschehen nach dem, was Du heute vernommen hast.“

„Redet, Vater!“ sagte der junge Mann.

„Du weißt, wir stammen von der Ahr. Ich war ein Bauernknecht im obern Thal, nicht besser und nicht schlechter als ein Anderer. Meine Herren sind aber immer mit mir zufrieden gewesen, und die Feldarbeit habe ich ordentlich gelernt. Hernach habe ich Preuß werden müssen und in Köln, zwei Jahre bei der Infanterie gestanden, das dritte Jahr hatte ich Urlaub und kam mit dreiundzwanzig Jahren in’s Dorf zurück. Auch als Soldat bin ich immer ein ordentlicher Mensch gewesen. Ich hatte mir als Knecht ein Stück Geld zurückgelegt und hoffte mit der Zeit so viel zu verdienen, daß ich ein Fleckchen Land kaufen und für mich pflanzen könnte.

Damals lernte ich Deine Mutter kennen, die uns vor vier Jahren gestorben ist. Du hast sie wohl nur noch in Erinnerung, wie sie schon hinfällig und schwach vom kalten Fieber war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 681. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_681.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)