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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


eventuelles Darlehn zurückzuzahlen; aber ich glaube, wenn ich Harpagon in Person gewesen wäre, ich hätte diesem bemitleidenswerthen Opfer unserer socialen Mißverhältnisse gegenüber nicht Nein gesagt. Eine beredtere Berufung an das menschliche Erbarmen, als Edouard’s trüben Blick, hätte selbst Thomas Hood, der Dichter des mark- und beinerschütternden „Song of the Shirt“, nicht erträumen können!

Dies ereignete sich im Juni 1870. Zwei Tage darauf trat ich eine Reise in die Schweiz an, wo ich von den gewaltigen politischen Begebnissen des Juli, unvorbereitet wie alle Welt, überrascht wurde. Ich sollte Edouard nicht wiedersehen. Bei meiner Rückkehr nach Paris fand ich seine Wittwe in den jammervollsten Verhältnissen. … Folgendes hatte sich inzwischen zugetragen:

Während der ersten Monate des Krieges ging das Leben der unglücklichen Familie seinen alten gewohnten traurigen Gang. Auch die Belagerung verschlimmerte ihre Lage nicht wesentlich. Die stillen Dulder waren ja von je an die härtesten Entbehrungen gewöhnt, und jetzt lieferte man ihnen die nothdürftigsten Lebensmittel, die sie aus eignem Vermögen nicht erschwingen konnten, gratis. Im März aber, als die Versailler Regierung vor einer anfangs leicht zu bewältigenden Emeute kopflos zurückwich und Paris dem Pöbel der Vorstädte preisgab, da stürzten so viele Verhältnisse über den Haufen, daß Edouard seinen Posten verlor und im buchstäblichen Sinne des Wortes brodlos wurde. Die Gutherzigkeit der Hausbewohner bewahrte ihn und die Seinen vor dem Aeußersten, und er nahm die freundlich gebotenen Unterstützungen dankbar entgegen, obgleich ihm das Bewußtsein, von der Gnade Anderer zu leben, wie Blei auf der ächzenden Seele lastete. …

Die Commune organisirte sich. Sie brauchte Beamten. Man gab es Monsieur Edouard an die Hand, sich zu melden. Er zögerte, aber der Hunger überwog. Mit hundertfünfzig Franken monatlicher Besoldung trat er in ein städtisches Bureau ein. Die Familie athmete auf. So glänzend war sie nie gestellt gewesen.

Aber der Traum war nur von kurzer Dauer. Die regulären Truppen schienen nach wochenlangem Geplänkel endlich Ernst machen zu sollen. Die Unhaltbarkeit der schon um ihrer Principien willen nicht lebensfähigen Commune ward von Tag zu Tag sichtbarer. Der grollende Donner der Versailler Geschütze schien den verblendeten Machthabern des Stadthauses ein nahes, unvermeidliches, furchtbares Ende zu weissagen. …

Die Maitage erfüllten diese Prophezeiung in ungeahnter Weise. Mord und Brand wütheten bestialisch durch die Straßen der riesigen Seinekönigin. Die Bataillone Mac Mahon’s, durch den zähen Widerstand der Föderirten erbittert, begingen himmelschreiende Grausamkeiten. Wehrlose Männer und Frauen wurden zu Tausenden ohne Urtheil und Recht füsilirt. Auch Edouard sollte seinen „Hochverrath“ mit dem Leben bezahlen. Irgend ein hämischer Schurke denuncirte ihn als Beamten und Helfer der Herren Pyat, Assy und Consorten. Eine Rotte betrunkener Musketiere drang in seine Wohnung, riß ihn aus den Armen seiner zitternden Familie und schleppte ihn an die nächste Hofmauer, wo er, von fünf Kugeln durchbohrt, seine Seele aushauchte. Sein Verbrechen bestand darin, daß er nicht gelernt hatte, zur größern Ehre des Herrn Thiers Hungers zu sterben. …

Wie viele ähnliche Opfer hat die Barbarei der Mac Mahon’schen Soldateska geschlachtet! Und wie viele Unglückliche vom Schlage Edouard’s gehen auch ohne das tödtliche Blei in Elend und Verzweiflung langsam zu Grunde! Wahrlich, die Arbeiter in einem Quecksilberbergwerke sind nicht mehr den nagenden Würmern der körperlichen und geistigen Vernichtung ausgesetzt, als die Pariser Subalternbeamten! Und Edouard gehörte noch zu denjenigen, die sich den Forderungen der äußeren Form mehr entziehen, als höheren Ortes eigentlich erwartet wird. Viele seiner Collegen halten darauf, wenigstens ein anständiges Empfangszimmer zu besitzen, und beschneiden auf diese Weise ihr Ernährungsbudget noch um sechszig oder siebenzig Franken!

Sollte man es für möglich halten, daß sich unter diesen Umständen gleichwohl bei einer neuerlichen Vacanz in einem der Municipalbureaux dreihundertneunundsiebenzig Bewerber, darunter neunundachtzig verheirathete, gemeldet haben? Das Gehalt der ausgeschriebenen Stelle betrug neunhundertfünfzig Franken jährlich – und dreihundertneunundsiebenzig Candidaten. O menschlicher Jammer!

Die Schilderung der Leiden einer „petite ouvrière“ – wie die Arbeitermädchen allgemein genannt werden – behalten wir uns für einen besondern Artikel vor.

Ernst Eckstein.




Blätter und Blüthen.


Eine geheimnißvolle Geschichte. Die Leser der Gartenlaube werden sich noch des Artikels über das Schatzamt in Washington in Nr. 24 dieses Jahrgangs erinnern. In demselben wird der unter seltsamen Umständen stattgehabte Verlust einer Million Dollars erwähnt, die im Schiffbruch des Dampfers Golden Rule verloren gingen, während ohne Gefahr nicht abzusetzende Sieben-Dreißiger Bonds wunderbar erhalten blieben. Im gegenwärtigen Augenblick, wo man den Dieben am Staatsgut in New-York stark zu Leibe rückt, haben amerikanische Blätter auch das geheimnißvolle Verschwinden jener Million wieder angeregt und ein Freund der Gartenlaube setzt uns in den Stand, die interessanten Details des Schiffbruchs der Golden Rule mitzutheilen.

Im Frühjahr 1865 erhielten die beiden Schatzamtsclerks Rufus Leighton und Victor Smith den Auftrag, 1,162,150 Dollars nach St. Francisco zu bringen, wie das häufig geschah. Um Diebe nicht in Versuchung zu führen, wurden solche Sendungen gewöhnlich geheim gehalten und außer den begleitenden Clerks und dem Capitain des nach Aspinwall fahrenden Schiffes sollte eigentlich Niemand etwas davon wissen. Um nicht die Aufmerksamkeit der Schiffsleute zu erregen, wurde die eiserne Kiste, in welcher sich die Summe in Papier befand, in eine gewöhnliche hölzerne gethan und in dieser Verkleidung an Bord des Dampfers Golden Rule gebracht, welcher der „Central-American-Transportation-Company“ gehörte und am 22. Mai von New-York nach Aspinwall abfahren sollte.

Die Kiste wurde von Capitain E. P. Dennis in Empfang genommen und in den hintern Bagageraum gestellt. Mehrere Tage vor der Abfahrt hintereinander erschien im Büreau der „Transportation-Company“ ein Mann, der sich sehr angelegentlich danach erkundigte, ob Herr Victor Smith mit dem Schiffe segle. Der Zufall wollte, daß derselbe einst im Büreau anwesend war, und ein Beamter sagte zu dem Fremden: „Dort ist Herr Smith“. Der Fremde stellte sich demselben als Herr Montgomery Gibbs vor, behauptete, daß er im Auftrage des Schatzamtes in Frankreich gewesen und im Begriff sei, in derselben Angelegenheit nach Californien zu reisen. Er fragte Herrn Smith, ob er auch hinreise, und freute sich, Gesellschaft zu haben.

Herr Smith hatte indessen nicht die geringste Lust, den Fremden zu seinem Vertrauten zu machen, dessen Aussehen ihm wenig Zutrauen einflößte, trotzdem er, nach Aussage einer Dame, wie ein Geistlicher aussah. Er war von mittlerer Größe, hatte eine stark gewölbte Brust, ein glatt rasirtes Gesicht und trug sein schlichtes blondes Haar hinter die Ohren zurückgestrichen. Sein Blick hatte jedoch etwa Gespanntes, Lauerndes. Er sah aus, als ob er entweder etwas verbergen oder etwas auskundschaften wolle; ein Blick, den man übrigens nicht selten bei Leuten findet, welche Theologie studirt und übrigens sonst nicht Böses begangen oder im Sinne haben.

Am Bord der Golden Rule befanden sich sechshundertachtzig Menschen, unter denen hundertachtzig Frauen und Kinder waren. Alle konnten jedoch Herrn Gibbs wegen dieses pfäffischen Blickes nicht leiden, mit Ausnahme des Capitains und eines verdächtigen Individuums, welches sich unter dem falschen Namen Walker an Bord geschmuggelt hatte und welches wunderbarer Weise Kenntniß von der Anwesenheit der Geldkiste besaß, da es darüber mit Herrn Smith einen Streit hatte.

Die Golden Rule hatte gleich beim Auslaufen ein Unglück. Ein kleiner Dampfer rannte derart in ihren linken Räderkasten, daß das Schiff einige Tage liegen bleiben mußte, bis der Schaden ausgebessert war.

Capitain Dennis überließ die Sorge für das Schiff und Passagiere seinen Lieutenants Pendleton und Reed und trank und amüsirte sich mit Herrn Gibbs und Walker und einigen leichtfertigen Frauenzimmern, von denen eine große Menge an Bord waren.

Am 29. Mai war der Geburtstag des Capitains. Zu Ehren des Tages wurde ein prächtiges Diner aufgetragen und nach dem Thee auf dem Deck getanzt. Die Abendstunden vergingen mit Unterhaltungen aller Art, wie gewöhnlich an Bord eines Schiffes auf längerer Fahrt, und Alle gingen zu Bett, ohne zu ahnen, was bevorstand.

Die Nacht war finster und nebelig und um Mitternacht fing es an zu regnen. Um drei Uhr Morgens rief Pendleton den Capitain; dieser fragte, was es für Wetter sei.

Der Lieutenant sagte: „Dick, unklar und nebelig.“

Der Capitain erwiderte: „Seht aus nach Brandung auf der Starbordseite und ruft mich um fünf Uhr!“

In der That sah der Lieutenant bald die Brandung in einer Entfernung von einer englischen Meile. Er zog sogleich die Glocke, um das Zeichen zum Halten zu geben, und befahl dann zurückzugehen. Das war kaum geschehen, als das Schiff auf ein Riff lief, aber in Folge des Rückwärtsgehens geschah dies so leicht, daß man es, der Aussage Pendleton’s nach, kaum fühlte. Der Stoß muß doch nicht so ganz leicht gewesen sein, denn kaum hatte er stattgefunden, so erschienen auch – als hätten sie darauf gewartet – der Capitain in Hemd und Unterhosen und ebenso Herr Gibbs.

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