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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

daß die Sonntagsfeier künftighin nicht durch solch unstatthaftes Geschrei, solchen leichtfertigen Singsang, wie er vorhin den ganzen Garten alarmirt hat, unterbrochen werde – ich glaube, so viel Rücksicht verdiene ich alter Mann schon.“ –

Wieder wandten sich die blauen Gläser nach mir hin; ich erwartete eine strenge Zurechtweisung und Verhaltungsmaßregeln für die Zukunft – aber nichts von alledem!

„Ich habe kein Geschrei gehört,“ versetzte Herr Claudius sehr gelassen. „Aber eine Scene habe ich mit ansehen müssen, die mein Gefühl verletzt hat. … Dieses junge Mädchen“ – er neigte den Kopf nach mir hin – „hat mit seinem unschuldigen Kinderliedchen nicht gegen das Gebot des Herrn gefehlt; aber, Herr Eckhof, Sie kamen eben aus der Kirche – Sie sind, wie Sie mir heute deutlich beweisen, einer jener unfehlbaren Christen, die jede ihrer Handlungen auf ein Gesetz Gottes zurückzuführen wissen – wie war es Ihnen möglich, den Tag des Herrn durch Härte und Unversöhnlichkeit Ihrem Kinde gegenüber zu beflecken?“

Ein böser Blick zuckte unter den weißen Brauen hervor nach dem Sprecher.

„Ich habe keine Kinder mehr, Herr Claudius, das wissen Sie doch am allerbesten,“ sagte er, das „Sie“ so scharf zuspitzend, als solle es tiefe Wunden schlagen.

Er verbeugte sich und ging mit raschen Schritten den Weg zurück, den er gekommen. Ich hatte deutlich gefühlt, daß Herr Claudius mittelst des einen so charakteristisch betonten Wörtchens verletzt und geschlagen werden sollte, und sah ihn an – der Dolch saß.

(Fortsetzung folgt.)




Pariser Bilder und Geschichten.
Die Armen und Elenden.

Es war im August dieses Jahres. Wir saßen vor einem der großen Kaffeehäuser des „Boulevard des Italiens“ und ließen die bunte wogende Menge Revue passiren. Mein Freund war zum ersten Male in Paris. Die Ruinen der Weltstadt hatten einen so unwiderstehlichen Reiz auf seine Einbildungskraft ausgeübt, daß er nicht umhin konnte, sich durch den Augenschein von der Glaubwürdigkeit der Zeichner und Berichterstatter seiner vaterländischen Blätter zu überzeugen. Wir waren den ganzen Tag rastlos herumgelaufen und erfreuten uns nun unserer „halben Tasse“, im Bewußtsein, die Labung redlich verdient zu haben.

Es schlug Neun. Immer farbenreicher gestaltete sich das kaleidoskopische Treiben auf den Asphaltplatten. … Jetzt trat ein alter zitternder Mann an unsern Tisch heran. Sein ganzer Körper schlotterte wie von einem heftigen Nervenschütteln. Er bat um ein Almosen; mein Freund reichte ihm ein Zweisousstück. Eine halbe Minute später legte uns ein junger Bursche einen Zettel neben die Tasse. Der Wisch war mit einigen Anekdoten etc. bedruckt und trug auf der Rückseite die Aufschrift: „Meine Herren und Damen! Kaufen Sie gefälligst dieses Werk Ihrem ergebenen Diener ab, der taubstumm ist. Es kostet nur zwanzig Centimes.“ Mein Freund kaufte. Unmittelbar darauf erschien eine zerlumpte Frau, die ein Kind auf dem Arme trug und ein zweites, älteres an der Hand führte. „Eine arme Wittwe!“ murmelte sie in kläglichem Tone. … „Erbarmen, meine Herren! … Meine Kinder hungern seit zwei Tagen.“ … Dabei warf sie Blicke gen Himmel, die einer christlichen Märtyrerin keine Unehre gemacht haben würden. Mein Freund reichte auch ihr eine Kleinigkeit und schüttelte dann, wie nachdenklich, das lockenumwallte Haupt.

„Es muß doch in dieser Riesenstadt ein entsetzliches Elend herrschen!“ seufzte er nach einer Weile. „Die Pariahs der Gesellschaft ziehen ja hier zu Hunderten an uns vorüber …“

„So scheint es – aber der Schein trügt!“

„Wie so?“

„Nun, die wahren Armen und Elenden darfst Du nicht hier im Lichte der funkelnden Candelaber suchen.“

„Aber ich bitte Dich!“

„Lieber Freund, ich kenne dieses Paris wie meine Rocktasche. Verlaß Dich darauf, Deine Mildthätigkeit von vorhin war durchaus nicht am Platze.“

„Der arme zitternde Greis …“

„Geht des Tags über so stramm und kräftig umher, wie ein Grenadier. Er begegnet mir oft, wenn ich meinen Morgenspaziergang mache. Seine Virtuosität im Schlottern bringt ihm eine jährliche Rente von fünf bis sechstausend Francs ein.“

„Unmöglich! Aber der Taubstumme …“

„Spielt seine Rolle meisterhaft, ist aber nichtsdestoweniger ein Schwindler. Er gehört zu den bekanntesten Figuren der Boulevards.“

„Und die unglückliche Wittwe …“

„Ist so wenig Wittwe als Du und ich. Die beiden Kinder hat sie sich gemiethet. Sie ‚verdient‘ so viel, daß sie den Eltern der beiden armen Würmer täglich vier Franken Pachtzins bezahlen kann. Nein, mein Bester, das wahre Elend verbirgt sich, scheu und furchtsam, als ob Armuth ein Verbrechen wäre.“

„Und wo sind diese wahren Dulder zu finden? Sind es die Arbeiter der Faubourgs, die Soldaten der Commune, die Männer des socialen Umsturzes?“

„Die Lage der Ouvriers, der Arbeiter, läßt viel zu wünschen übrig – aber unter zehn Fällen vermag Einer doch neun Mal sich und die Seinen ehrlich durchzuschlagen. Gesunde fleißige Hände verdienen selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen so viel, daß von einer eigentlichen Noth nicht die Rede sein kann. Der Pariser Arbeiter würde sich sogar vortrefflich stehen, wenn er beispielsweise nicht mehr Bedürfnisse hätte, als der deutsche. Aber das ist eben der Fluch einer luxuriösen Stadt; die überfeinerten Lebensformen wirken allenthalben ansteckend, und so kommt es, daß sich allmählich zwischen Wollen und Können ein unversöhnlicher Zwiespalt ausbildet. Der französische Ouvrier beansprucht bei jeder Mahlzeit sein Dessert, so gut wie der Petit-Crevé des Boulevards; er gefällt sich in kostspieligen Liebschaften, ganz nach der Manier der großen Herren. Unter solchen Umständen muß er seine Löhnung natürlich knapp finden. Der fleißige sparsame Familienvater wird dagegen sein redliches Auskommen erzielen; als Arbeiter braucht er in keiner Beziehung zu ‚repräsentiren‘; seine tägliche Tracht ist die überaus billige Blouse; er wohnt ohne Rücksicht auf irgend welche gesellschaftliche Aeußerlichkeit, wo und wie er Lust hat; seine Frau, seine Kinder helfen mit verdienen, denn auch sie können thun und lassen, was ihnen behagt; kurz, der Ouvrier gehört, trotz aller Mangelhaftigkeit unserer socialen Zustände und unbeschadet seiner berechtigten Ansprüche auf Verbesserung, noch keineswegs zu den eigentlichen ‚Misérables‘. Nein, ich will Dir die eigentlichen Pariahs des modernen Paris nennen: es sind die unverheiratheten Arbeiterinnen und die Subalternbeamten! Von dem Elende, das diese beiden Kategorien von Unglücklichen zerwühlt und zermartert, macht sich unsre leichtfertige Welt, die nur nach dem Scheine urtheilt, keinen Begriff.“

Mein Freund drückte mir den Wunsch aus, etwas über die Lebensweise dieser modernen Sclaven zu erfahren, und so erzählte ich ihm denn, was ich wußte. Vielleicht ist es dem geneigten Leser nicht uninteressant, wenn ich das flüchtige Bild, das ich damals entwarf, an dieser Stelle nachzeichne – wo nicht, so hat er das souveraine Recht, die folgenden ohnehin düsteren Skizzen zu überschlagen.

Es mag wohl zwei Jahre her sein, da fuhr ich eines schönen Morgens auf der Omnibus-Impériale von Batignolles-Clichy nach den Weinhallen. Mein Nachbar zur Rechten war ein anständig gekleideter intelligent aussehender Mann in der Mitte der Dreißiger.

Sein blasses Gesicht war von einem wohlgepflegten dunkeln Vollbart umrahmt, der die fahle Nuance der Wangen noch auffälliger machte. Es lag Etwas wie ein unsagbarer geistiger Druck über der ganzen Erscheinung; ein Hauch von freudloser Seelenverfinsterung, vermischt mit einer unerquicklichen Resignation.

Der Mann interessirte mich. Nach wenigen Minuten hatte ich ein Gespräch mit ihm angeknüpft. Er war mittheilsamer, als ich erwartet hatte. Ich erfuhr, daß er Employé (Beamter) im Hôtel de Ville sei; daß er erst vor einem halben Jahre seinen Geburtsort – er nannte ein kleines Städtchen der Normandie – verlassen habe, um nach Paris überzusiedeln. Seine Stimme frappirte mich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_677.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)