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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


16.

Ich lief über den Fahrweg und trat an das Staket. Gretchen sah mich mit großen Augen an; sie verließ schleunigst ihr Wägelchen und kam auf mich zu.

„Hast Du aufgemacht?“ fragte sie mich und deutete nach der offenen Thür hinter mir. „Darfst Du denn das, Du Kleine?“

Ich bejahte lachend.

„Aber höre, Dein Garten ist nicht hübsch,“ sagte sie, das Näschen verächtlich emporziehend – sie nickte nach dem grünen Düster hin, das sich hinter der Thür aufthat. „Hast ja nicht eine einzige Blume drin! … Da guck’ ’mal unseren an – Herr Schäfer hat viele, viele – ach, wohl hunderttausend Blumen!“

„Ja, aber Du darfst keine abreißen.“

„Nein, abreißen nicht,“ versetzte sie niedergeschlagen und steckte den kleinen, spitzen Zeigefinger in den Mund.

„Aber ich weiß viele blaue Glockenblumen und niedliche weiße – die darfst Du nehmen, und Erdbeeren kannst Du pflücken, Deinen ganzen großen Heuwagen voll!“

Sie zog sofort den Wagen hinter sich her, kam herüber zu mir und legte ihre Hand vertrauensvoll in die meine; wie ein Vögelchen so weich und warm schmiegte sie sich zwischen meine Finger. Ich war glücklich über meine neue Bekanntschaft; es fiel mir nicht ein, die eigenmächtig geöffnete Thür wieder zu schließen, sie blieb weit offen hinter uns, während wir in das Gebüsch eindrangen. Da gab es freilich Erdbeeren und Glockenblumen, als hätten sie droben die Baumkronen von sich abgeschüttelt. Die Kleine schlug die Hände zusammen und fing an, zu rupfen und zu zupfen, wie wenn es gelte, den halben Waldboden des Herrn Claudius nach Hause zu schleppen.

„Ach Gott, diese Menge Erdbeeren!“ seufzte sie glückselig auf und pflückte und mühte sich, daß ihr die hellen Schweißperlchen auf die Stirn traten. Dabei aber summte sie doch ein Liedchen vor sich hin.

„Ich kann auch singen, Gretchen,“ sagte ich.

„So schöne Lieder wie ich? Das glaub’ ich nicht – Onkel Max hat sie mich gelehrt – na, da sing’ doch einmal!“

Mein musikalisches Gehör mußte sich frühe entwickelt haben, denn all den kleinen Singsang, den ich kannte, hatte mir Fräulein Streit noch in der Hinterstube eingelernt. Ich liebte über Alles die Taubert’schen Kinderlieder und begann jetzt „Der Bauer hat ein Taubenhaus –“ zu singen. Ich hatte mich auf eine Steinbank gesetzt, und bei den ersten Tönen verließ Gretchen ihren Heuwagen, legte die Arme auf meine Kniee und sah mir aufhorchend und athemlos in das Gesicht.

Es war seltsam – ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. In der Haide war sie schwach verklungen, die Lüfte hatten sie nach allen Himmelsrichtungen hin versprengt und verweht; hier aber fingen die engzusammengezogenen grünen Coulissen der Waldbäume den Klang auf; er strömte so voll und glockenartig, so ganz anders beseelt aus, daß ich meinte, ich sei das gar nicht selber.

Es ist ein lustiges Liedchen, das von dem Bauer und seinen Tauben, die ihm davonfliegen. Gretchen lachte aus vollem Halse und schlug in die Hände vor Vergnügen nach dem ersten Vers. „Fängt er die Tauben wieder? Geht denn das Liedchen nicht weiter?“ fragte sie.

Ich begann abermals, aber plötzlich erstarb mir der Ton auf den Lippen. Ich konnte von meinem Steinsitz aus ziemlich tief in das Gebüsch einen Weg verfolgen, der nach der Karolinenlust mündete. Wenn ein Windhauch hie und da die Blätterschichten lüftete, sah ich die Fenster des Hauses aufblinken. … Auf diesem Weg her kam der alle Buchhalter – ich mußte an die weißgekrönte Hagelwolke denken, wenn sie der Sturm über die Haide hintrug, so finsterdräuend erschien das Gesicht unter dem unbedeckten, silberglänzenden Haar, und so beschleunigt und überraschend schritt die mächtige Gestalt auf mich zu.

Gretchen folgte der Richtung meiner Augen – ihr Gesicht färbte sich purpurroth, mit einem Freudenruf flog sie auf den alten Herrn zu und schlang ihre Arme um seine Kniee.

„Großpapa!“ rief sie mit zurückgeworfenem Köpfchen zärtlich zu ihm hinauf.

Er stand wie zu Stein erstarrt und sah auf das Kind nieder; er hielt beide Arme vorgestreckt, wie Jemand, der sich im arglosen Weiterschreiten plötzlich vor einer ungeahnten Tiefe sieht und entsetzt zurückweicht, und in dieser Stellung verharrte er regungslos; es war, als fürchte er, seine Hände könnten im Niedersinken eines der hellen Goldhaare auf dem Köpfchen berühren.

„Gelt, Du bist mein Großpapa? … Luise hat’s gesagt –“

„Wer ist Luise?“ fragte er mit tonloser Stimme – mir klang es, als wolle er mit dieser Frage näherliegende Erörterungen abwehren.

„Aber Großpapa – unsere Luise! – Sie hat meinen kleinen Bruder getragen, wie er noch im Wickel lag. Aber nun ist sie fort. Wir können kein Kindermädchen halten, sagt die Mama, es kommt viel, viel zu theuer. …“

Jetzt lief ein Zucken durch das versteinerte Gesicht, und die Hände sanken tiefer.

„Wie heißest Du denn?“ fragte er.

„Ach, das weißt Du nicht einmal, Großpapa? … Und Herrn Schäfer sein Caro weiß es, und unsere Miezekatze auch! … Gretchen heiß ich. Aber ich habe noch mehr Namen – wunderhübsche Namen – ich will sie Dir alle einmal hersagen. Anna, Marie, Helene, Margarethe Helldorf heiße ich.“

Sie faßte bei der feierlichen Aufzählung jedesmal einen ihrer kleinen Finger. Es lag ein unbeschreiblicher Zauber in der Stimme und dem ganzen Wesen des unschuldigen Geschöpfchens, und der alte Mann vermochte sich ihm bei aller Anstrengung nicht zu entziehen – ich sah plötzlich seine beringte Hand auf dem blonden Scheitel liegen; er bog sich nieder – wollte er wirklich das holde Gesichtchen küssen? … Vielleicht, wenn ihm Zeit verblieben wäre, das kleine Wesen in seine Arme zu nehmen und Herz an Herzen zu fühlen, daß es zu ihm gehöre durch das Blut, das diese jungen Pulse pochen machte – vielleicht wäre das ein Augenblick geworden, zu welchem die Engel im Himmel gelächelt hätten. Aber in das Gute und Versöhnende, das sich gestalten will, greift oft eine dunkle Hand herüber und stößt heimtückisch die Seelen selber, die sich in besserer Erkenntniß nähern sollten, störend in die feinen Webefäden.

Ich wußte nicht, warum ich so heftig erschrak, als ich das helle Frauengewand in der Richtung der Mauerthür durch das Gebüsch flattern sah. Es kam in fliegender Eile näher, und plötzlich stand die junge Frau aus dem Schweizerhäuschen nur wenige Schritte von der Gruppe entfernt – sie stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vor das Gesicht.

Der alte Herr schreckte empor – nie werde ich den Ausdruck von eisigem Hohn vergessen, in welchem das tiefbewegte, schöne, alte Männergesicht sofort wieder erstarrte.

„Ach, sieh’ da! Die Komödie ist vortrefflich gelungen! … Man weiß ja seine Kinder recht gut zu verwenden und abzurichten!“ Er stieß das Kind von sich, daß es taumelte.

Die Frau fuhr zu und fing es in ihren Armen auf. „Vater,“ sagte sie und hob warnend den Zeigefinger, und ein fast aberwitziges Lächeln zog die Oberlippe von den Zähnen zurück, „mir hast Du Alles anthun dürfen, mich kannst Du mit Füßen treten … ich leide es willig, aber mein Kind darfst Du mir nicht mit Deiner harten Hand berühren – das wagst Du nicht wieder!“

Sie nahm die Kleine, von deren blaßgewordenen Lippen kein Laut mehr kam, auf ihren Arm.

„Ich weiß nicht, wer das Kind hierhergebracht hat“ – fuhr sie fort.

„Ich!“ sagte ich vortretend mit bebender Stimme. „Verzeihen Sie mir!“

Bei aller heftigen Aufregung wandte sie doch augenblicklich das Gesicht mit einem milden, wenn auch sofort wieder verfliegenden Ausdruck nach mir hin.

„Ich wollte die Kleine in das Haus holen,“ sagte sie weiter

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_675.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)