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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

anderem Vieh zur Nahrung aufzusuchen. Erst 1867 ist ermittelt worden, daß sich die Heerwurmslarven im Laubholzwalde ausschließlich oder doch vorzugsweise von der auf der Erde liegenden Laubschicht in der Weise nähren, daß sie das Zellengewebe mit mehr oder weniger vollständiger Verschonung sämmtlicher, auch der kleinsten und zartesten Rippen und Adern, verzehren, so daß ein mehr oder weniger vollständig über das ganze Blatt hin sich erstreckendes Skelet entsteht, und dies rechtfertigt nunmehr die Annahme, daß die Züge der Heerwurmslarven keinen anderen Zweck haben, als den, eine neue passende Fraßstelle aufzusuchen. Betrachten wir aufmerksamer die Laubdecke des Waldbodens, so finden wir, daß dieselbe im Frühjahr und Sommer niemals mehr eine so gleichförmige ist, wie der herbstliche Blätterabfall bei ruhiger Luft sie bildete; denn Wind und Stürme bleiben nicht aus und vertreiben das auf den Boden herabgefallene Laub von manchen Stellen vollständig, von anderen größtenteils, um es in Gräben, in Vertiefungen oder auf sonstigen geschützten Räumen hoch und höher anzuhäufen. Sodann wissen wir aber auch, daß die Feuchtigkeit oder Frische des Bodens und der darüber lagernden Laubdecke eine sehr verschiedene ist je nach der Gebirgsformation, nach der Geschlossenheit des Holzbestandes, nach der Himmelsgegend, wohin im Gebirge der Abhang sich senkt, nach dem Vorhandensein von Quellen und Bächen in der Nähe etc. Da nun, wie jetzt als unzweifelhaft erkannt ist, die untere, schon mehr oder weniger in Verwesung begriffene Lage einer mehrere Zoll hohen, nicht zu trockenen Laubschicht, in welcher aber keine Schimmelbildung eingetreten sein darf,

Der Heerwurm als a. Larve. b. Puppe. c. Weibliche Heerwurmfliege. d. Natürliche Größe derselben. e. Hinterleibende des Männchens. f. Ein vergrößerter Theil des Fühlers.

die naturgemäße Nahrung der Heerwurmslarven im Laubholzwalde liefert, so ist es begreiflich, daß jene Larven, welche bei ihrem massenhaften Zusammenleben und der großen Gefräßigkeit, die ihnen wie fast allen anderen Insectenlarven eigen ist, einer großen Menge Laub zur Ernährung bedürfen, gleich den Raupen des Processionspinners nach neuen Weideplätzen ausziehen müssen, sobald sie an einer Stelle die ihnen zusagende Nahrung aufgezehrt haben. Dabei scheinen jedoch Witterungsverhältnisse in der Weise eine nicht unwichtige und vielleicht die hauptsächlichste Rolle zu spielen, daß die Larven auch dann eine andere, mehr oder weniger entfernt liegende Fraßstelle aufzusuchen sich veranlaßt fühlen, wenn anhaltende Dürre die Laubschicht, unter der sie leben, zu sehr austrocknet oder ungewöhnlich viel Regen dieselbe zu naß und den Aufenthalt unter derselben unangenehm macht. In letzterem Falle kommen sie in der Regel auf die Oberfläche und zehren von den obersten erweichten Blättern, verkriechen sich aber wieder unter die Laubdecke, sobald diese obenher zu trocken werden.

Die wunderbaren Processionen beginnen vielleicht schon, wenn die Larven noch ganz klein sind und möglicherweise unter Umständen gleich nach dem Ausschlüpfen aus dem Eie, wenigstens haben die Harzer Beobachtungen des Sommers 1868 ergeben, daß den Larven die Tendenz zur Bildung von Zügen gleich von der Geburt an beiwohne. Denn am 22. Mai jenes Jahres unterhalb der Laubschicht aufgesuchte, wenig über eine halbe Linie lange Lärvchen, die auf ein feuchtes Buchenstreulaubblatt gesetzt wurden, begannen daselbst allsobald Umherzuziehen gleich den erwachsenen Larven. Bemerkt im Walde sind die Züge innerhalb Deutschlands seither immer erst von den letzten Tagen des Juni an bis zu der in der Regel im Monat August eintretenden Verpuppung, welche letztere unterhalb der Laubschicht des Waldes, gern in den von Mäusen herrührenden Gängen oder sonstigen Höhlungen, geschieht. Die Puppen liegen in größeren oder kleineren, meist lang gedehnten Häufchen ohne ein eigentliches Gespinnst beisammen und werden nur ganz locker durch einzelne feine, spinnewebartige Fäden, sowie auch die am Hintertheile hängengebliebenen, zusammengeschrumpften, braungewordenen, fettglänzenden Larvenbälge und die grobkörnigen braunen Darmausleerungen, deren sich die Larven vor der Verpuppung entledigten, unter einander verbunden.

Nach acht bis zehn oder zwölf Tagen geht aus der anderthalb bis zweieinhalb Linien langen, anfangs milchweißen, später bräunlichgelben und zuletzt im vorderen Theile, so weit die Flügelscheiden reichen, schwärzlich gefärbten, bei den weiblichen Individuen längs des Hinterleibes und der Mittellinie des Unterleibes mit je einer Reihe citronengelber Flecken versehenen Puppe das fertige Insect hervor, die kleine, wenig über zwei Linien lange Trauermücke, welche sehr träge ist und sich mehr auf ein Umherkriechen beschränkt, als mit Fliegen befaßt. Ihre Thätigkeit ist lediglich auf Erhaltung der Art gerichtet und im Walde kommt die Mücke häufig gar nicht unter der Laubdecke weg zum Vorschein, legt vielmehr an der Stelle, wo sie der Puppenhülle entschlüpfte, ihre Eier ab und stirbt dabei oder unmittelbar nachher, nachdem sie ihr Leben höchstens auf drei Tage gebracht hat. Die etwa hundert Eier eines jeden Weibchens bilden einen rundlichen Haufen, sind sehr klein, fünfzehn bis zwanzig zusammengenommen von der Größe eines Mohnkornes, etwas länglich, ellipsoidisch, durchscheinend, glänzend und nach dem Ablegen zuerst milchweiß, färben sich aber innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Stunden bräunlich und überwintern unter der Laub- oder Nadeldecke des Waldes. Die aus denselben im nächsten Jahre und zwar in der Regel wohl im Monat Mai hervorgehenden Larven bilden gewissermaßen zusammengehörige Familien oder Gesellschaften und halten wiederum, sobald die Umstände danach angethan sind, ihre Processionen. In welcher Menge und Ausdehnung die Heerwurmszüge und deren Larven zuweilen vorkommen, ergeben folgende Beispiele: Am 24. Juli 1864 zog im Leinewalde unweit Altenburg bis nach sechs Uhr Morgens ein Heerwurm in gerader Linie von Süden nach Norden, welcher sechsundzwanzig Ellen lang war und die Breite einer mittleren Hand hatte. Siebenzehn Ellen waren gleich breit und neun Ellen gingen allmählich nach dem Schwanze spitz zu. Diese Ausdehnung erscheint um so überraschender, als der Heerwurm daselbst schon vierzehn Tage vorher aufgefunden war und die vielen Beobachter und Beschauer desselben namhafte Quantitäten Larven mit fortgenommen hatten.

Am 17. August 1867 Vormittags wurden bei bewölktem Himmel und nachdem es in den Tagen vorher viel und noch Morgens früh gelinde geregnet hatte, unweit Hahausen am Harze sechsundvierzig ein bis zehn Fuß lange Heerwurmzüge, von denen die meisten vorn handbreit waren, alle aber nach hinten allmählich spitz zuliefen, auf der etwa einhundert Schritt im Geviert haltenden nassen Laubdecke eines geschlossenen Buchenbestandes nach den verschiedensten Himmelsrichtungen hin- und herziehend beobachtet. Es konnten auf diese sechsundvierzig Züge durchschnittlich mindestens fünf Fuß Länge und ein Zoll Breite gerechnet werden, und da sich bei vorgenommener Zählung auf ein Zoll Länge und ein Zoll Breite etwa zweihundert ziehende Larven fanden, so ergab dies auf jene sechsundvierzig Züge über eine halbe Million zweiundfünfzigtausend Stück Larven. Die sechsundvierzig Züge vereinigt gedacht hätten ein zweihundertdreißig Fuß langes, ein Zoll breites oder ein nahe an sechszig Fuß langes, handbreites Heer bilden können.

In Deutschland ist der Heerwurm vorzugsweise im Thüringerwalde und am Harze, weit seltener in feuchten Waldungen der Ebene und fast ohne Ausnahme nur in Laubholzbeständen beobachtet. Bei dem Aufsehen, welches sein Erscheinen in engeren oder weiteren Kreisen jedesmal machte, haben die Jahre, in denen er sich zeigte, für die Naturgeschichte mehr als gewöhnliche Bedeutung erhalten und mögen solche deshalb hier Erwähnung finden, so weit sie bekannt geworden sind. Im Thüringerwalde beobachtete man den Heerwurm von 1698 bis 1867 siebenzehn Mal, und zwar in weitaus den meisten Fällen bei Eisenach. Am Harze zeigte sich derselbe von 1804 bis 1871 einundzwanzig Mal. Ferner bei Tilsit in der Jacobsruhe 1845 und 1856; bei Hannover in der Eilenriede 1853; unweit Herrnhut in der Oberlausitz 1853 und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_667.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)