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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Inzwischen gingen die Jahre in’s Land, der Indianer war seit jener Blutnacht verschwunden, und wie die Cultur nach dem Westen vorrückte, hatte die Regierung der Vereinigten Staaten die Gegend vermessen lassen und das Land zum Verkauf ausgeboten. Conrad Wölfling bediente sich seines Anspruchs auf den Vorkauf, den das Gesetz in Nordamerika jedem Squatter giebt; er kaufte mit baarem Geld das von ihm besetzte Land von der Regierung und besaß nun ein Grundstück zu eigen, das in Deutschland ein Rittergut repräsentirt hätte. Sein und der Nachbarn Land wurde zu einer Gemeinde, einer Township der Vereinigten Staaten erklärt, und es galt nun, auf demokratischem Wege und nach allgemeinem Stimmrecht Personen in die bürgerlichen Aemter zu wählen.

Das geehrteste und einflußreichste dieser bürgerlichen Aemter ist das des Friedensrichters. Er ist der Hauptrepräsentant des Staates in den neuen Ansiedelungen; er kann durch freundlichen Beirath viel Unglück und Streit abwenden; er traut, wo noch kein Priester ist, die jungen Paare, und wo ein neuer Ankömmling Rath und gute Sitten der Nachbarn braucht, geht er zuerst zum Friedensrichter. Niemand in der Ansiedelung war darüber zweifelhaft, daß Conrad Wölfling das Amt des Friedensrichters erhalten müsse. Um diese Zeit aber trat in der ganzen amerikanischen Union die Spaltung über die Sclavenfrage hervor. Es handelte sich um die erste Wahl Abraham Lincoln’s.

Bis in diese entfernten Grenzgegenden hinein spalteten sich die Bürger der großen Republik. Wölfling, wie die meisten im Unmuth vom Vaterland geschiedenen Deutschen, war gegen die Sclavenpartei und ging für Lincoln. In einer benachbarten Ansiedelung aber, welche zu derselben Township gehörte und den Friedensrichter mit zu wählen hatte, herrschte die Partei der Sclavenhalter vor. Die geographischen Verhältnisse machten sich geltend. Die entfernten Ansiedelungen trieben den Des Moines-Fluß hinunter Handel mit dem Mississippi. Ein reicher Schweinezüchter, auch vom Rhein gebürtig, hatte ein großes Geschäft in gepökeltem Schweinefleisch angefangen, das er in Fässern den großen Fluß hinunter den Sclavenbaronen zur Fütterung der Neger auf den Pflanzungen zusandte. Mit mehreren der reichsten Plantagenbesitzer stand er so in Verbindung, und gar nicht ohne Ursache fürchtete er, wenn der Süden ruinirt würde, möchten drunten in Arkansas keine Neger als Consumenten seines Schweinefleisches mehr übrig bleiben. Aus reinem Geschäftsinteresse war er demnach ein wüthender Anhänger der Sclaverei, und unter der Devise: „Erhaltung der Union durch Erhaltung der Sclaverei“, trat er in seiner Gemeinde für die Wahl von Jefferson Davis auf. Seine Anhänger in der Township ernannten ihn zum Candidaten für die Friedensrichterstelle, und der Wahlkampf zwischen ihm und Capitain Wölfling erregte die Gemüther des jungen Districts, weil man die Entscheidung als eine Vorbedeutung für die Wahl der beiden Präsidentschaftscandidaten ansah.

Der Kampf zwischen den beiden Bewerbern um den Ehrensitz im Friedensgericht hatte zugleich einen persönlichen Charakter. Man wußte, daß der Schweinezüchter aus einer Gegend ganz nahe der Heimath Conrad’s herstammte. Er war ein paar Jahre später als dieser nach Amerika eingewandert, und er hätte dem Nachbar viel aus der Heimath erzählen können. Aber Conrad, sonst gegen alle neuanziehende Nachbarn, Deutsche wie Amerikaner, freundlich und zuvorkommend, war diesem eher aus dem Wege gegangen, als scheute er an seine Vergangenheit erinnert zu werden. Die beiden Männer, beide in ihren Kreisen die geachtetsten und einflußreichsten, hatten wenigstens in Amerika sich nie von Aug’ zu Aug’ gesehen. Conrad’s Anhänger in seiner Ansiedelung waren von der Richtigkeit und Ehrlichkeit ihrer Opposition gegen die Sclaverei so treulich überzeugt, daß sie eine Verständigung mit der Gegenpartei für möglich hielten. Sie luden demnach die Nachbargemeinde zu einem Wahl-Meeting ein, das in dem Schulsaal ihrer Niederlassung zusammenberufen wurde.

Die Nachbarn erschienen, und in englischen und deutschen Reden, mit mehr und weniger Geschick, mit mehr und weniger Ideal oder Egoismus wurde die Frage durchgesprochen, welche als Gegensatz von Capital und Arbeit, Grundbesitz und Frohndienst, Despotie und Freiheit in unserm Jahrhundert die Lebensfrage aller gebildeten Völker geworden ist.

Ueber diese theoretische Frage kam es zu keiner Einigung. Man mußte die Personalfrage berühren. Straites, den wir als Capitain Wölfling’s tapferen Lieutenant aus jener Schreckensnacht kennen, hob in englischer Rede die Verdienste des Letzteren hervor: man wisse, wie freundlich und leutselig er sei, was einem Friedensrichter am besten anstehe, und wie er Andere immer bereitwillig unterstützt und oft schon, auch ohne amtliche Stellung, den Nachbarn zu Frieden und Eintracht geholfen habe. Auch seiner Uneigennützigkeit und Tapferkeit bei dem Indianerangriff wurde gedacht, und seines kühnen Aloys neben ihm in Ehren Erwähnung gethan. „Vom Schweinezüchter aber,“ fuhr der Redner fort, „ja, was wisse man von Dem, als daß er ein wohlhabender Mann sei und das Seine gut zu Rath halte, aber um die Nachbarn habe er sich nie besonders gekümmert, und wenn sein Schweinefleisch im Norden der Union bessern Absatz finde als unten am Mississippi, so würde er ebenso tapfer, wie heute für die Sclavenbarone, für die Abolitionisten einstehen.“

Dieser Hieb traf, und der reiche Fleischhändler empfand, daß er traf. Straites brachte nun in bester Form den Antrag, daß diese Versammlung den Capitain der freiwilligen Miliz in der Township, Conrad Wölfling, als eine geeignete und tüchtige Person erkenne für das Amt eines Friedensrichters, und daß man sich verpflichte, ihm bei der bevorstehenden Wahl die Stimmen zu geben. Der Beifall, womit dieser Antrag entgegengenommen wurde, zeigte dem Gegencandidaten, daß seine Sache verloren sei, wenn er keinen starken Gegenschlag führte. Er bestieg die Rednerbühne und sprach in gebrochenem Englisch wie folgt:

„Männer und Mitbürger! Wer über Recht und Eigenthum amerikanischer Bürger als Richter entscheiden soll, der muß, meine ich, ein unbescholtener und friedlicher Mann sein, der nicht selber dem Gesetz verfallen ist. Ob ich das bin, mögt Ihr entscheiden; mich aber dünkt, ein jeder Bürger sei ehrenwerth, der fleißig zu seinem eigenen Gut sieht, dafern er dabei daß Recht seines Nachbars nicht schädigt. Das, hoffe ich, ist mein Fall. Aber Eins könnt Ihr nicht leugnen: Ein Mann soll nicht in Amerika mit den Händen den Richterstab führen, mit denen er daheim in Deutschland, wie mein Gegencandidat, dort Mister Wölfling, eines Menschen Blut vergossen hat.“

Ein ungeheurer Tumult durchlief bei diesem Wort die zahlreiche Versammlung. „Hört, hört!“ riefen die Anhänger des Fleischhändlers. Aber die Freunde Conrad’s drangen in wilder Wuth gegen den Sprecher, um ihn von der Rednerbühne herabzureißen, und wohl hundert Stimmen riefen: „Das lügt er!“

Der Capitain stand todtenbleich, und Aloys unterstützte ihn.

„Hört mich,“ rief der Sprecher jetzt mit lauter Stimme von der Tribüne herab. Ihr sagt, ich lüge. Gut, geht vor die rechte Schmiede, fragt Den, der es am besten wissen kann. Fragt den Capitain selber. Ihr sagt, er ist ein ehrlicher Mann, ich halte ihn dafür wie Ihr. Laßt ihn sprechen: kann er auf seine Mannesehre versichern, daß kein Menschenblut an seinen Händen klebt, so will ich ihm abbitten, was ich gesagt habe, und will ihm selber meine Stimme geben zum Friedensrichter!“

Alle Augen wandten sich auf den Capitain.

(Fortsetzung folgt.)


Der Heerwurm.
Zur Enthüllung eines heimischen Waldschreckens.

Unsere Leser haben den „Heerwurm im Salon der Gartenlaube“ entstehen sehen und wissen aus der Nr. 34 unseres Blattes, daß derselbe, weiter nichts, als die zusammenhängende Masse von Larven eines armseligen Mückleins ist, die nach einem Ziele vorwärts kriechen. Wir dürfen uns deshalb wohl gleich zur Geschichte dieser Erscheinung wenden.

Sie ist nicht sehr alt, die Geschichte des Heerwurms, noch nicht volle zweihundertsiebenzig Jahre, aber ihre Sagenzeit hat sie doch und der Aberglaube hat eine große Rolle in ihr gespielt, bis es endlich der Naturforschung gelang, mit ihrem Lichte auch dieser Gruseligkeit ein Ende zu machen.

Ein Wunder war es eben nicht, wenn der Heerwurm gerade

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_664.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)