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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Seien Sie ganz ruhig,“ sagte Fräulein Fliedner lächelnd zu ihr. „Fräulein Claudius liebt es manchmal, in Uebertreibungen zu sprechen. Der Herr ist streng, aber nicht tactlos. Sie können getrost mit ihm reden.“

„Nun, wenn Sie meinen,“ entgegnete Ilse sichtlich erleichtert. „Ich weiß nicht warum, aber ich habe Vertrauen zu dem Mann. Was er für ein Gesicht hat, weiß ich freilich nicht – er stand draußen im Hofe mit dem Rücken nach mir zu – aber die Kleine hat ihn vor vier Wochen in der Haide gesehen und sagt, er sei ein alter, uralter Herr, und da muß er doch Erfahrungen haben und die Welt kennen.“

Charlotte fuhr mit beiden Armen in die Luft und schüttelte sich vor Lachen.

„Onkel Erich wird sich bei Ihnen bedanken, Durchlauchtigstes Haideprinzeßchen!“ rief sie, und auch Fräulein Fliedner sah mich schalkhaft an.

„Nehmen Sie nur Ihren Kasten und kommen Sie mit!“ sagte sie zu Ilse. Sie warf eine Mantille über die Schultern, zupfte die weißen Manschetten am Handgelenk zurecht und fuhr mit beiden Händen über den tadellos glatten, graumelirten Scheitel.

„Da muß ich auch dabei sein!“ rief Charlotte aufspringend und warf den Pinscher in seinen Polsterkorb.

„Im Morgenanzug?“ fragte Fräulein Fliedner mit großen Augen.

„Ach was, ist er denn nicht schön und frisch?“ rief Charlotte leichthin, indem sie sich vor dem Spiegel das Spitzenhäubchen tiefer in die Stirn zog.

Die alte Dame zuckte die Achseln und ließ uns wieder hinaustreten in die dämmernde Hausflur. Sie öffnete geräuschlos eine am entgegengesetzten Ende der Halle liegende Thür.



13.

Ich wäre am liebsten gleich auf der Schwelle umgekehrt und in den Hof gelaufen, um mich zu überzeugen, daß draußen die Julisonne wirklich noch am wolkenlosen Morgenhimmel brenne. … Ach, wie düster und kalt war es hinter diesen vergitterten Fenstern! Von der gegenüberliegenden Straßenseite leuchtete freilich eine helle Hausfront herein, allein diese hartgrelle Fläche ließ die Schatten, die um die steingewölbte Decke und die braunen Ledertapeten webten, nur um so greifbarer dunkel erscheinen. Mit jedem Athemzug schluckte die Lunge eine dumpfe, dicke Luft, in der alle Blumen der Welt gestorben und eingetrocknet zu sein schienen.

An einer langen Tafel stand der alte Buchhalter. Er hatte graue Leinwandärmel über seine Arme gezogen und wühlte sortirend in einem Haufen kleiner Papierpakete; um ihn her waren mehrere Leute beschäftigt.

„Guten Tag, Herr Eckhof!“ sagte Charlotte und reichte ihm im Vorübergehen in burschikoser Weise, wie etwa ein Student dem anderen, die Hand. Er grüßte freundlich zurück – vor Fräulein Fliedner dagegen neigte er sich genau so steif und gefroren wie vor meinem Vater.

Wir durchschritten das große, saalartige Zimmer und traten in einen daranstoßenden Raum. Es war nur ein Herr anwesend, obgleich mehrere Schreibpulte die Fensterwand entlang standen.

Der Herr saß so, daß er das ganze Zimmer und auch die Thür übersehen konnte, durch die wir eintraten. Bei unserem Erscheinen hob er den Kopf, dann stand er auf, ein wenig frappirt, wie es schien, und verließ den Fenstertritt, auf welchem sein Schreibtisch stand. … Er hatte ein schmales, edles, etwas blasses Gesicht.

Charlotte eilte, uns voraus, auf ihn zu.

„In der Morgenhaube, Charlotte?“ fragte er, und ein großes, blaues, feuriges Augenpaar heftete sich befremdet auf das Gesicht der jungen Dame. Das lebhafte Roth ihrer Wangen färbte sich tiefer und lief bis unter das Stirnhaar hinauf.

„Ach Onkel, Du bist ja allein,“ sagte sie bittend und ließ ihre Augen noch einmal flink durch das Zimmer schweifen. „Nimm es diesmal nicht so streng mit den Hausregeln – ich muß dabei sein, wenn Du eine interessante Bekanntschaft machst.“

Ich hatte mich längst hinter Ilse geflüchtet.

„Das ist der Herr nicht, der mir die Thaler gegeben hat,“ flüsterte ich ängstlich.

Charlottens scharfes Ohr hatte die Worte aufgefangen.

„Onkel,“ sagte sie, wie ein Kobold in sich hineinlachend, „vor vier Wochen hat Dich eine junge Dame in der Lüneburger Haide gesehen und will nun zu dem ‚alten, uralten Herrn Claudius‘ –“

„Ach, das ist ja schließlich ganz egal, ob es der Herr ist, oder nicht, den die Kleine gesehen hat,“ fiel Ilse resolut ein. „Ich will mit Herrn Claudius sprechen, und der sind Sie doch?“

Er neigte mit dem schwachen Anflug eines Lächelns um seine Lippen den Kopf.

Und nun begann Ilse abermals ihren Bericht. Sie mußte ihn eingelernt haben, wie der Pfarrer seine Predigt, denn er schnurrte und rollte ohne Unterbrechung genau in der Reihenfolge herab, wie Fräulein Fliedner gegenüber.

Währenddem steckte ich hinter den Damen und betrachtete mir den Herrn genauer. Er hatte die schlanke, feingebaute Gestalt des alten Herrn im braunen Hut und auch seine Stimme, aber das war ja unmöglich dessen Kopf. Ueber der jugendlich glatten Stirn lag ein Streifen dicker, aschblonder Haarwellen und Ringel, die allerdings im schrägeinfallenden Licht einen intensiven Silberschein annahmen. Auffallend erschienen unter diesem mattglänzenden Haar die dunklen Brauen. Fest und kühn die blauen Augen überwölbend, gaben sie dem blassen, vornehmen, wenn auch nicht gerade schöngebildeten Gesicht einen Zug von Kraft. … Ich sah, wie sich allmählich eine kleine Falte zwischen ihnen vertiefte – Ilse’s Vortrag mißfiel ihm offenbar, er hatte nicht die mindeste Lust, sich mit der Sache zu befassen, hie und da warf er einen Seitenblick auf den neben ihm liegenden, aufgeschlagenen Folianten; man sah, es war ihm fatal, gestört worden zu sein, wenn er sich auch höflicher Weise Mühe gab, eine aufmerksame Haltung zu zeigen.

„Ich kann Ihnen nur rathen,“ sagte er kühl, als Ilse eine Pause machte, um Athem zu schöpfen, „die junge Dame so bald wie möglich in einem Institut unterzubringen –“

„Nein, Onkel!“ unterbrach ihn Charlotte. „Es wäre grausam, das junge, scheue Geschöpfchen, das bis jetzt die ungebundenste Freiheit genossen hat, in diese Maschinen, diese Schablonen zu pressen! Das Leben im Institut ist schrecklich! –“

„Es ist schrecklich, Charlotte?“ wiederhole er tief betroffen. „Und Du hast beinahe Dein ganzes bisheriges Leben im Institut verbracht! … Warum hast Du nie gesprochen?“

Sie zuckte die Achseln. „Was hätte mir denn meine Klage genützt?“ klang es ziemlich bitter von ihren Lippen.

Er sah sie streng und durchdringend an, sagte aber kein Wort mehr. In diesem Augenblick wurde die Thür aufgemacht; der alte Buchhalter trat ein, und ihm folgte ein hochgewachsener, sehr schöner, junger Mann. Der Letztere erschrak sichtlich über die Anwesenheit der Damen und wollte sich wieder zurückziehen.

„Kommen Sie nur herein!“ rief Herr Claudius. Seine Augenbrauen falteten sich ein wenig; er zog seine Uhr und hielt sie dem Eingetretenen hin.

„Es ist sehr spät, Herr Helldorf,“ sagte er kalt.

Charlotte hatte den Gruß des jungen Mannes mit einem vornehm gleichgültigen Kopfnicken erwidert; bei den Worten ihres Onkels aber wurde sie feuerroth, und ein Zornblick streifte dessen Gesicht.

„Verzeihen Sie, Herr Claudius; ein Kind meines Bruders erkrankte vor einigen Stunden sehr heftig,“ entschuldigte sich der junge Mann mit leichtbebender Stimme und nahm Platz an seinem Schreibpult.

„Das thut mir leid – ist Gefahr vorhanden?“

„Gott sei Dank, sie ist vorüber!“

Herr Claudius wandte sich wieder zu Ilse. „Ich weiß in der That nicht, wie ich mich in der Angelegenheit nützlich machen kann,“ sagte er. „Herrn von Sassen darf man doch bei seinem Beruf und seiner ganzen Lebensweise unmöglich zumuthen, den Bildungsgang eines – wie Sie selbst sagen – ziemlich verwilderten jungen Mädchens zu leiten –“

„Das möchte ich schon gern übernehmen!“ fiel Fräulein Fliedner ein.

„Und ich auch,“ sagte Charlotte rasch.

„Es handelt sich hauptsächlich um die Verwaltung des kleinen großmütterlichen Vermögens, das Fräulein von Sassen zugefallen ist,“ setzte die alte Dame hinzu.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 626. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_626.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)