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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

In einer offenen Halle des Erdgeschosses hatten die Träger unser Gepäck niedergelegt; sie wurden ausgezahlt, dann stiegen wir eine Treppe hinauf. Wir schritten in der Beletage an hohen Thüren vorüber, die seltsamer Weise mit handgroßen, verstaubten Gerichtssiegeln beklebt waren – breite, weiße Papierstreifen legten sich über den Schluß der Thürflügel, wie ein Schweigen gebietender Finger auf ein Paar Lippen. …

Erst im zweiten Stock machten wir Halt. Der junge Herr öffnete eine Thür und wir traten ein, während er sich mit einer freundlichen Verbeugung zurückzog und die Thür hinter uns geräuschlos wieder schloß.

Mich überfiel plötzlich eine tödtliche Angst. Ich hatte daheim ganz richtig herausgefühlt, daß mein Vater mich nicht wolle, daß ich für ihn eine Last sei, die er am liebsten für immer in der Haide wissen mochte, und die Verwunderung über meine Existenz, die mir hier überall entgegentrat, bestätigte mir, daß er sein Kind nie auch nur mit einer Silbe erwähnt habe. … Und nun stand ich doch in seinem Zimmer, zudringlich über die Maßen, und sah mit erschreckten Augen in die Welt, in welcher er lebte und wirkte. … Wie fremd und unsäglich erschien mir Alles, was ich sah! Die Wände des weiten Saales, in welchen wir eingetreten, waren von unten bis hinauf zur Decke mit Büchern bedeckt, „mit so vielen Büchern, wie Erikastengel auf der Haide standen“ – meinte ich. Es blieb nur Raum für vier mit grünen Wollgardinen behangene Fenster und zwei Thüren. Die Thür linker Hand war weit zurückgeschlagen – ein zweiter Saal that sich auf, ein Saal mit Oberlicht. Durch eine weite und tiefe Kuppel inmitten des Plafond strömten die Sonnengluthen blendend herein auf hingestreckte, weiße Menschenglieder, auf eine drohend emporgereckte, keulenschwingende Menschengestalt, aber auch über liebliche Frauenbilder in faltenreichen, weich niedersinkenden Gewändern.

In einer der Fensternischen des Büchersaales stand ein Schreibtisch; vor demselben saß ein Herr und schrieb. Er hatte unser Eintreten nicht bemerkt, denn während wir noch einen Augenblick regungslos an der Schwelle verharrten, hörten wir das unausgesetzte Kritzeln seiner Feder – es verursachte mir Nervenfrösteln. … Ich weiß nicht, war es die Seltsamkeit und Neuheit der Umgebung, oder dasselbe Gefühl, das mich packte – die Furcht vor meinem Vater – genug, Ilse, die stets schlagfertige, rückhaltslos thatkräftige Ilse zögerte einen Moment; dann aber nahm sie entschlossen meine Hand und führte mich nach dem Fenster.

„Schönen guten Tag, Herr Doctor, da wären wir!“ sagte sie – mir war, als schlüge diese sonore, aber doch ein wenig bebende Stimme mit einem wahren Donnerton erweckend an die stillen Wände.

Mein Vater fuhr aus den rings aufgehäuften Papierstößen empor und starrte uns an; dann schnellte er wie elektrisirt in die Höhe.

„Ilse!“ rief er in unverkennbarem Schrecken.

„Ja, die Ilse, Herr Doctor!“ sagte sie ruhig. „Und das ist Lenore, Ihr einziges Kind, das seinen Vater seit vierzehn Jahren nicht gesehen hat. … Das ist lange her, Herr Doctor, und wär’s kein Wunder, wenn Sie aneinander vorübergingen, ohne sich zu kennen.“

Er schwieg und strich sich wiederholt über die Stirn, als koste es ihm die größte Mühe, sich zu sammeln und unser Hiersein zu begreifen. Mit weicher Hand schob er mir den Hut zurück und sah mir in die Augen, und ich sagte mir, innerlich ein wenig zurückschreckend, daß es wohl selten ein so mageres eingesunkenes Gesicht geben könne, als das meines Vaters; aber er hatte die schönen Augen meiner Großmutter.

„Also Du bist Lenore?“ sagte er sehr sanft und küßte mich auf die Stirn. „Klein ist sie, Ilse, ich glaube, sie ist kleiner, als meine Frau war“ – er seufzte auf. „Wie alt ist das Kind?“

„Siebenzehn Jahre, Herr Doctor, ich habe es Ihnen ja schon zwei Mal geschrieben.“

„Ach so!“ sagte er und strich sich wieder über die Stirn; dann schlang er seine Finger aneinander und ließ sie in den Gelenken knacken – er war das Bild eines Menschen, den man plötzlich aus einem tiefen Traume gerissen und in die grelle Wirklichkeit gestellt hat.

„Du bist müde, mein Kind, verzeihe, daß ich Dich so lange stehen ließ!“ sagte er in ausgesucht höflichem Tone zu mir, nachdem er einmal rasch auf- und abgegangen war. Inmitten des Saales stand ein schwerfälliger mit Büchern und Papieren bedeckter Tisch; mein Vater schob uns zwei der Lehnstühle hin, die den Tisch umkreisten.

„Vorsicht, liebe Ilse, ich bitte Sie inständigst!“ rief er angstvoll, als sie im Niedersetzen arglos ihren Strickkorb auf ein aufgeschlagenes Papierheft stellte. Seine mageren Hände zitterten beim behutsamen Aufnehmen des Körbchens, und ein zärtliches Mutterauge kann die Züge des erkrankten Lieblings nicht ängstlicher prüfen, als mein Vater das scheinbar uralte Papier, nachdem er es von der ungewohnten Berührung befreit hatte.

Ich sah Ilse an; sie verzog keine Miene; jedenfalls kannte sie diese Eigenthümlichkeit meines Vaters schon.

„Komm, ruhe ein wenig aus!“ sagte er, als er bemerkte, daß ich zögerte, mich zu setzen. „Dann wollen wir in das Hôtel gehen –“

„In’s Hôtel, Herr Doctor?“ fragte Ilse gelassen. „Was soll denn das Kind im Gasthaus? … Das würde Ihnen einen schönen Thaler Geld kosten zwei Jahre lang –“

Mein Vater taumelte förmlich zurück. „Zwei Jahre? Was reden Sie da, Ilse?“

„Ich rede nur, was ich Ihnen zehn Jahre lang in jedem Briefe geschrieben habe – wir sind da mit Sack und Pack! … Ich leide es ein für allemal nicht mehr, daß das Kind in der Haide verwildert! Sehen Sie sich Lenoren an! Sie kann kaum lesen und schreiben – daß Gott erbarm – Sie sollten nur ’mal die Krakelfüße sehen! … Auf die Bäume kann sie klettern und in die Nester gucken, aber eine ordentliche Naht nähen, oder eine Ferse in einen Strumpf stricken, das kann sie nicht – hab’s ihr mit dem besten Willen nicht beibringen können, und vor einem fremden Menschengesicht läuft sie wie vor einer Mördergrube und bringt’s nicht fertig, auch nur ‚guten Tag‘ zu sagen. … Und das ist dem Herrn von Sassen sein einzig Kind! … Ihre Frau müßte sich in der Erde umdrehen, wenn sie das wüßte!“

Es fiel meinem Vater nicht ein, auf dies schmeichelhafte Signalement hin meine kleine Persönlichkeit zu mustern.

„Mein Gott, das mag ja Alles vollkommen wahr und richtig sein!“ rief er und fuhr sich mit beiden Händen verzweiflungsvoll in die Haare; „Aber ich bitte Sie, Ilse, was soll denn ich mit dem Kinde anfangen.“

Bis dahin hatte ich den Wortwechsel regungslos und schweigend mit angehört, aber nun erhob ich mich.

„Ach, wie schrecklich ist dies Alles!“ rief ich, und meine Stimme zitterte vor Angst und Schmerz. „Vater, sei ruhig; ich will Dir ganz gewiß nicht wieder unter die Augen kommen! Ich gehe auf der Stelle wieder, und wenn es sein muß, laufe ich zu Fuße in die Haide zurück. Dort ist ja Heinz, der freut sich ganz gewiß, wenn ich wiederkomme. … Und ich will nun auch fleißig werden, Vater; darauf kannst Du Dich verlassen – ich will nähen und stricken … Du sollst sehen, ich werde Dir nie, nie wieder zur Last fallen! …“

„Sei still, Kind“ sagte Ilse, indem sie sich mit überströmenden Augen rasch erhob.

Aber schon hielten mich zwei Arme umschlungen – ich ruhte am Herzen meines Vaters. Er nahm mir den Hut ab, warf ihn auf den Fußboden und drückte sanft meinen Kopf an seine Brust.

„Nein, nein, mein Kind, mein armes, kleines Lorchen, so war das nicht gemeint!“ tröstete er mich bewegt. Seltsam – es war, als hätten ihn erst meine Worte zu sich selbst und zur vollen Erkenntniß der ganzen Lage gebracht. „Nun gerade sollst Du bei mir bleiben … Ilse, hat das Kind nicht ganz die Stimme meiner Frau? Klingt sie nicht genau so erquickend silberhell? … Bei mir bleiben soll sie, in die Haide darf sie nicht wieder zurück, das steht fest! … Aber, liebe Ilse, wie fängt man die Sache an? … Hier ist ja nicht einmal mein Heim; ich bin selbst Gast in diesem Hause auf unbestimmte Zeit. … Ja, wie fängt man das an?“

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_596.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2019)