Seite:Die Gartenlaube (1871) 593.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 36.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


9.

Es war zur Mittagszeit, als wir erschöpft und mit steifgewordenen Gliedern auf dem Bahnhof zu K. anlangten, nachdem wir schon den halben vorigen Tag und die ganze Nacht auf der Eisenbahn gefahren waren. Die neuen Eindrücke, denen ich überall begegnet war, hatten mich nahezu überwältigt. Nun hing die Sonne senkrecht über unserem Scheitel, und es schien, als wolle sie uns und den schnaubenden Zug und die große Häusermasse der vor uns liegenden Stadt insgesammt zu Pulver verbrennen.

„Zu Herrn Doctor von Sassen!“ sagte Ilse gebieterisch zu den zwei Männern, die unsere Habseligkeiten auf einen kleinen Wagen luden.

„Kenne ich nicht!“ versetzte der Eine.

Ilse nannte die Hausnummer.

„Ah, das große Sämereigeschäft – Firma Claudius? … Wohl, wohl!“ sagte er ehrerbietig, und der Wagen rollte fort.

Eine erstickende Staubwolke empfing uns auf der Promenade, die sich zwischen der Stadt und dem Bahnhof hinzog, und auf den weiten Rasenplätzen ringsum und den kleinen hübschen Kastanien über unseren Häuptern lag es schwer und grau, als habe es Asche geschneit. … Hier flog doch wenigstens noch ein Luftzug auf; aber in den Straßen, die wir nun durchwandern mußten, herrschte bleierne, mephitisch dumpfe Schwüle. Dann und wann öffnete sich eine der engen Gassen, und wie eine eintönige, sonnenflimmernde Scheibe breitete sich ein weiter Platz draußen hin – mir war, als müßten dort die erhitzten Pflastersteine dampfen oder helle Funken zurücksprühen. … Ach, die rothblühende Ebene daheim mit dem erquickenden Haideduft und den kühlen, rauschenden Eichen um den Dierkhof!

„Das ist zum Sterben schrecklich, Ilse!“ stöhnte ich, während sie meine Hand ergriff und mich hastig auf das Trottoir zog – eine Equipage raste um die Ecke.

Bis dahin waren uns nur wenige vorübereilende Menschen begegnet; die Mittagsgluth machte die Straßen still und einsam. Nun aber scholl Trommeln und Pfeifen fern herüber.

„Die Wachtparade!“ sagte Ilse aufhorchend mit einem wohlgefälligen Lächeln – alte, fünfundzwanzigjährige hannöversche Erinnerungen mochten wohl in ihr auftauchen.

Der Lärm kam rasch näher und plötzlich fluthete ein Menschenschwall in die Straße herein.

„Hu – guckt ’mal die an! Die hat hundert Jahre im Kleiderschrank gehangen!“ schrie ein Junge und stellte sich vor Ilse hin. Er legte seine zwei Fäuste auf dem Kopfe übereinander, um die Hutform anzudeuten, und schnitt eine Grimasse. Alles lachte und schrie durcheinander, und selbst unsere zwei Lastträger schmunzelten.

„Gassenjungen!“ sagte Ilse verächtlich und hob steif den Kopf, während wir zu meiner Beruhigung gerade in eine stille Seitenstraße einbogen. „In Hannover sind die Leute doch manierlicher – da ist mir so ’was nie passirt!“

Jeder Nerv zitterte in mir und die tiefste Niedergeschlagenheit überkam mich – Ilse, meine heilig respectirte Ilse war verhöhnt worden! … Ich drückte ihre Rechte, die mich bis dahin geschützt und geleitet, leisetröstend und liebkosend an meine Wange, und ließ meine müden, heißen Füße mechanisch weiter wandern.

Der Wachtparadenlärm hinter uns erlosch allmählich, und endlich hielten die Männer in einer abgelegenen, todtenstillen, aber mit vornehmen Häusern besetzten Straße. … Wir standen vor einem düstern Steinbau. Sämmtliche Fenster im Erdgeschoß waren vergittert und zu der hochgelegenen Hausthür führten Stufen mit einem schönen Eisengeländer. Das alte Haus mit seiner breiten, massiven Nordfront mochte wohl imposant sein; ich aber entsetzte mich vor den Fenstergittern, vor den geschwärzten Mauersteinen, auf die kein Sonnenschein fiel, und die reichgeschnitzte und verschnörkelte schwere Bohlenthür, mit dem ungeheuren, blitzenden Messingdrücker starrte mich an, wie ein dunkles, unheimliches Räthsel.

„Siehst Du, Ilse, daß ich Recht hatte mit der Hinterstube?“ rief ich verzweiflungsvoll. „Wir wollen umkehren!“

„Abwarten!“ sagte sie und zog mich die Stufen hinauf. Die Lastträger nahmen das Gepäck auf die Schultern und traten hinter uns. Ilse klingelte. Gleich darauf wurde die Thür langsam zurückgeschlagen und ein alter Mann ließ uns eintreten. Eine ungewöhnlich hohe und weite Hausflur nahm uns auf. Wir standen auf einer glänzend polirten Steinmosaik – von Stein waren die breiten, gewundenen Treppen im Hintergrund und die zwei mächtigen Träger inmitten der Flur, die sich droben an der Decke in kühne Bogen spalteten. Diese Steinmassen hauchten eine köstliche Kühle aus, aber über sie hin breitete sich auch tiefer Schatten, ein kirchenartiges Dämmerlicht, das nicht einmal die über den Treppen hereinfallenden Sonnengluthen zu durchströmen vermochten.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_593.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)