Seite:Die Gartenlaube (1871) 585.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Welche Fülle von typischen Figuren! Da naht sich in demüthiger, gebeugter Haltung der heruntergekommene Literat, der den abgeschabten Cylinder krampfhaft durch die dürren Finger laufen läßt und von seinem Herrn Collegen einige Franken „erborgen“ möchte. Da stolzirt kühn gehobenen Hauptes ein Jüngling herein, der eine weltverbessernde Erfindung gemacht hat, – sei es nun, daß er die Lösung eines gewaltigen socialen Problems, sei es, daß er eine neue Methode der Straßenreinigung, des Brodbackens oder der Kuhpockenimpfung bringt. Auch wissenschaftliche Entdeckungen, wie z. B. die der Cirkelquadratur, des Perpetuum Mobile etc. sind an der Tagesordnung. Der junge Mann verlangt die Einrückung eines acht Spalten langen Artikels, in welchem er die Früchte seines Nachdenkens dem Urtheile der Sachverständigen unterbreitet. Erbittert runzelt er die Stirn, wenn der Chefredacteur zum zweiten Male gewagt hat, nicht zu Hause zu sein! Wie? Hat man denn im neunzehnten Jahrhundert jeden Sinn für die Fortentwicklung des Menschengeschlechts verloren? Soll sich die traurige Komödie, die der große Columbus durchgelitten, immer und ewig wiederholen? … Es ist fast überflüssig, hinzuzufügen, daß der angebliche Geistespionnier im besten Falle ein unreifer Schwärmer ist.

Nicht minder zahlreich als die Bittsteller und Erfinder sind die literarischen Dilettanten. Sie übertreffen jene noch an Hartnäckigkeit und Beredsamkeit. Der Student im ersten Semester, der einen Leitartikel über die europäische Lage verfaßt hat und denselben in der nächsten Nummer veröffentlicht sehen möchte; der hagere Poet, der eine Dichtung im Stil der Henriade geboren hat und das Feuilleton der betreffenden Zeitung um die Uebernahme der Patenstelle ersucht; die ältliche Dame, die mit einem Sensationsromane von hundert Bogen niedergekommen ist – das sind stehende Charaktere des Vorzimmers. Die „Garçons“ sind ihnen gegenüber so meisterhaft geschult, daß sie dem Redactionspersonal nie lästig fallen würden, wenn sie nicht eine eigenthümliche Kriegslist befolgten. Sie warten nämlich bis zum Schlusse der Bureaustunden und „begleiten“ dann die Redacteure auf dem Wege nach ihren Privatwohnungen. Namentlich versteht es die Pseudo-Schriftstellerin, ihre Opfer mit unlöslichen Garnen zu umstricken.

Auch der Mann des „Eingesandt“ gehört zu den Typen der Belagerer des Wartezimmers. Bald bringt er eine Jeremiade über das schlechte Pflaster in der Rue de la Coqueluche; bald beschwert sich sein Artikel über die Unsicherheit gewisser Stadtviertel; bald erlaubt er sich eine „leise Anfrage“, ob man höheren Orts nicht gesonnen sei, endlich in dem Impasse Carcolet eine Gaslaterne anzubringen, da ein naher Verwandter des Einsenders am 27. d. M. daselbst in der Dunkelheit der Nacht eine Rippe gebrochen habe.

Oft sind diese Correspondenzen unterzeichnet wie folgt: Henri Goguenard, Specereiwaarenhandlung, Rue St. André, Nr, 99; oder: Jean Jacques Brimbouillet, Strumpfwaarengeschäft (auch auf Credit), Rue Bergère Nr. 77. Alsdann entspringen sie dem speculativen Kopfe eines haushälterischen Bourgeois, der dem Publicum seine Firma in’s Gedächtniß rufen will, ohne die Auslagen für eine Anzeige zu bestreiten.

Vergessen wir schließlich nicht den Finanzschwindler! Er bringt eine mehr oder minder beträchtliche Summe und wünscht dafür die lobende Besprechung irgend eines zweideutigen Unternehmens.

Alle diese Persönlichkeiten hat der Bureaudiener abzuwehren, zu beschwichtigen oder im Nothfall vor die Thür zu befördern. Die Aufgabe ist ebenso schwierig als undankbar, und mehr als ein Seufzer des Neides ringt sich aus dem Busen des ewig umlagerten Garçons los und weht hinüber nach den Räumen, wo der König des Journals, der Redacteur en chef, seine souveraine Existenz führt.

Der Chef-Redacteur eines Pariser Journals ist in der That ein kleiner Fürst. Jedermann fêtirt ihn; alle Pforten sind ihm geöffnet. Die Theater stellen ihm die besten Logen zur Verfügung; ohne ihn geht keine Feier, kein diplomatisches Diner, kein Autorenfrühstück, keine künstlerische Soirée in Scene. Er bezieht ein Gehalt von zwanzig- bis vierzigtausend Francs, wohnt Bel-Etage, und „macht ein Haus“. Dabei ist er unter allen Journalisten derjenige, der am wenigsten schreibt. Als eleganter Dirigent steht er vor seinem Pulte und schwingt ohne sichtbare Anstrengung sein Stäbchen. Freilich, die Arbeit ist, äußerlich genommen, leichter, als die rastlose Thätigkeit der einzelnen Instrumente; aber es gehört ein ganz besonders ausgeprägtes Tactgefühl dazu.

Ein echter Chef-Redacteur duldet unter seinem Personal Niemanden, der ihm vermöge seines Talentes ebenbürtig oder gar überlegen wäre. So hat Emil von Girardin den Herren Nefftzer, Peyrat, Duvernois u. A., die eine Zeit lang seine Unterredacteure waren, nach gewonnener Einsicht in ihre Befähigungen den Laufpaß gegeben. Emil von Girardin ist übrigens, beiläufig gesagt, einer der wenigen Chefs, die persönlich eine unermüdliche Feder führen.

Der Zweite im Rang, nach dem Chef-Redacteur, ist der Verfasser des „Premier-Paris“, des Leitartikels. Sein officieller Name ist Bulletinier, eigentlich „Berichterstatter“; das journalistische Kauderwelsch benennt ihn auch wohl „Tartinier“ (tartine ist ein belegtes oder Butter-Brödchen), was sich aus besten mit „Appetitsmacher“ übersetzen läßt.

Der Bulletinier muß die Gabe besitzen, auf Commando über jeden beliebigen Gegenstand aus dem Gebiete der Politik, der Nationalökonomie, der Geschichte etc. etc. eine Spalte voll geistreicher Bemerkungen loszulassen. Je nach dem Inhalte der einlaufenden Telegramme fordert man von ihm eine Charakteristik der religiösen Ideen in Deutschland, eine Darlegung der türkischen Militärverhältnisse oder ein Resumé der österreichischen Geschichte seit dem Kriege von 1864. Der Bulletinier zeichnet sich durch die Verwegenheit seiner Perspectiven, durch die Tollkühnheit seiner Combinationen aus. Mit einem einzigen Federstriche „vernichtet“ er Systeme, Staatsmänner, sociale Einrichtungen; es kostet ihm nicht das Geringste, den „politischen Horizont“ mit „schwarzen Punkten“ zu tätowiren, kriegerische Verwickelungen in allen vier Weltgegenden zu weissagen, und von Zeit zu Zeit im Tone einer Pythia zu erklären, Europa stehe „am Vorabende großer Ereignisse“.

Der Bulletinier verbraucht, wie der Leser bereits ahnen wird, eine unfaßliche Menge sogenannter „Clichés“, d. h. Gemeinplätze. Da sein unermüdlicher Kiel per Dampf arbeitet und oft ohne Unterbrechung zwei- bis dreihundert Zeilen auf’s Papier wirft, in denen sich kaum eine ausgestrichen Silbe vorfindet, so wird man ihm die kleine Schwäche zu Gute halten. Die Clichés verleihen übrigens dem Zeitungsstile in den Augen der Halbgebildeten ein eigenthümliches Relief. Im Wesentlichen stimmen die Gemeinplätze der französischen Journalistik mit denen der deutschen überein. Hierher gehört z. B. die famose Wendung: „Wir tanzen auf einem Vulcan!“, oder die nicht minder poetische: „Wir befinden uns auf einer schiefen Ebene.“ Auch Phrasen wie die folgenden sind dem Deutschen wie dem Franzosen geläufig: „Man erzählt sich in diplomatischen Kreisen …“ – „Wir erfahren aus zuverlässiger Quelle …“ – „Dürfen wir einem sehr consistenten Gerücht Glauben schenken, so …“ – „Sie haben Nichts gelernt und Nichts vergessen …“ – „Er war ein Mann, nehmt Alles nur in Allem …“ – „Der gesunde Sinn des Volkes …“ – „Die Wissenschaft hat einen herben Verlust erlitten …“ etc.

Der Bulletinier verfügt über alle diese mehr oder minder geistreichen Wendungen mit unumschränkter Machtvollkommenheit. Auch sprudelt er von bildlichen Ausdrücken über, die indeß nicht immer die Genehmigung des Logikers erlangen würden. Der Bulletinier spricht von dem Sturme einer lodernden Begeisterung, von den Grundlagen der Familienbande, von den Schranken, die das Gesetz ihm auflegt, und dergleichen mehr. Je schneller und flüchtiger der Artikel vom Stapel gelassen wird, um so häufiger finden sich solche schadhafte Stellen. Seitdem die Journalisten genöthigt sind, ihre Arbeiten zu unterzeichnen, seitdem ist auch der Tartinier vorsichtiger geworden. Traut er sich indessen nicht hinlänglich, fürchtet er, durch die Beifügung seines Namens seinen Ruf zu schädigen, so hilft ihm ein eigens hierzu berufener Amtsbruder aus der Verlegenheit: der Redactionssecretär!

Derselbe hat die Aufgabe, sämmtliche Artikel, deren Verfasser ungenannt bleiben wollen, auf sein Conto zu nehmen. Wie mancher hohe Staatsmann verbirgt sich hinter der schlichten Unterzeichnung eines solchen Scheinschriftstellers! Jahrelang hat Guizot das „Journal des Débats“ mit Leitartikeln beglückt, die „David“ signirt waren. Selbst Louis Napoleon ließ von Zeit zu Zeit seine souveräne Stimme im „Constitutionnel“ erschallen und nannte sich „Boniface“. Oft ist der Redactionssecretär seit acht Tagen krank oder verreist; aber „seine Artikel“ fahren fort, die Börse zu beeinflussen oder eine Ministerkrise hervorzurufen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_585.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)