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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


beide Ufer des Leman, ihr Einfluß in der Waadt hatte sich indeß beträchtlich verringert. Auch kamen sie selten nach Chillon. Hier waltete nur ein Burgvogt, welcher gleichzeitig Bailli (Amtmann) des Chablais war. Er vertrat den abwesenden Fürsten, unterzeichnete in seinem Namen Verträge, führte im Kriege die Ritterschaft an, befehligte alle festen Plätze des Landes, hielt namentlich Chillon in vertheidigungsfähigem Stande und commandirte die zum Schutze des Sees bestimmte kleine Flotille, welche unweit des Schlosses vor Anker lag. Auch in Genf saß ein savoyischer Prinz auf dem Bischofsstuhle. Schon schien es Savoyen gelingen zu wollen, die widerspenstigen Genfer Bürger unter seine Botmäßigkeit zu bringen, da hielt aus Frankreich her die Reformation ihren Einzug an den Gestaden des Sees, und in der Stadt wie in der Umgegend verbanden sich die Kämpen der religiösen mit den Streitern für die politische Freiheit, um das verhaßte savoyische Regiment abzuschütteln. Alle bauten dabei auf die Hülfe Berns, des alten Widersachers der Savoyer, welches laut seine Stimme erhob, auf daß dem Worte Gottes freier Lauf gelassen werde.

Von allen Männern der Bewegung hatte vielleicht keiner mehr dazu beigetragen, der Reformation und Freiheit in Genf den Weg zu bahnen, als der Prior von St. Victor, François von Bonivard. Von Geburt Savoyarde und durch Blut und Freundschaft zu dem hohen Adel des Landes in engen Beziehungen, war er doch von ganzem Herzen der Sache Genfs ergeben und unablässig bemüht gewesen, ein Bündniß der Stadt mit den Eidgenossen der Schweiz zu bewerkstelligen. Keinen verfolgte darum auch der Herzog von Savoyen mit solchem Grimme wie den noch jungen Vorstand des kleinen Klosters, dessen Priorat Bonivard als zwanzigjähriger Jüngling im Jahre 1514 von einem alten Onkel geerbt hatte. Um jeden Preis mußte der kühne Rebell unschädlich gemacht werden. Es geschah durch Verrath. Eines Tages kam der Herzog nach Genf. Bonivard hatte sich von ihm nichts Gutes zu versehen, er fand es deshalb für gerathen, bei einem Freunde im Waadtlande, dem Abte von Montheron, ein Asyl zu suchen. Allein der Freund war ein Schurke. Unter Mithülfe eines waadtländischen Edelmannes ließ er den arglosen Prior unterwegs von einer bewaffneten Bande ergreifen, zwang ihn seiner Pfründe zu entsagen, welche er in seine eigene Tasche steckte, und lieferte ihn dem Herzoge von Savoyen aus, der ihn volle zwei Jahre lang gefangen hielt.

Seine Freunde erwirkten ihm zwar endlich die Freiheit wieder, aber alle Anstrengungen Bonivard’s, auch das Priorat in seinen Besitz zurückzubekommen, blieben fruchtlos. In seinen eigenen Aufzeichnungen muß man nachlesen, was der muthige Mann aufbot, sein kleines Reich wieder zu erobern. Mit einer Truppe von sechs Mann unter der Führung eines Freiburger Hauptmanns warf er sich in ein festes Schloß und bekriegte von da aus den Herzog. Wie man sich leicht denken kann, mißglückte das Abenteuer und diente nicht dazu, seine Feinde zu versöhnen. Jetzt blieb ihm nichts Anderes übrig, als die Stadt Genf um ein kleines Jahrgeld anzugehen und ihr dafür die Rechte auf seine Pfründe abzutreten. Er erhielt die Pension, aber sie langte nicht aus, ihn und seinen getreuen Pagen zu ernähren. Allmählich verarmte er gänzlich. Da, in seiner großen Noth, ließ er sich verleiten, das Mitleid seines unerbittlichen Gegners, des Herzogs Karl des Dritten, anzurufen, wenngleich er, wie er selbst sagt, dem Mann nicht traute.

Es war im Jahre 1530. Um eine Streitigkeit des Grafen von Greyerz zu schlichten, tagte Karl mit seinen Vasallen eben in Moudon an der Straße von Lausanne nach Bern. Dahin begab sich Bonivard, welchem man Hoffnung gemacht zu haben scheint, der Herzog werde seine Bitte um das bescheidene Einkommen von vierhundert Thalern gegen Verzichtleistung auf seine Priorei erfüllen.

„Ich dachte,“ schreibt er in seinen Memoiren, „meine Angelegenheit der Fürsprache der dort versammelten Edelleute zu empfehlen. Es war am Abend vor Himmelfahrt. Ich saß beim Nachtessen dem Marschall von Savoyen gegenüber und fand bei dem Haushofmeister der Herzogin Quartier. Da man sich noch nicht alsbald mit meinem Anliegen beschäftigen konnte, beschloß ich, andern Tages nach Lausanne zurückzukehren. Bellegarde – der Haushofmeister – gab mir einen reitenden Diener zum Geleite mit. Aber kaum befanden wir uns auf der Höhe des Jorat bei Sainte- Cathérine, da erschien der Burggraf von Chillon, Antoine von Beaufort, der sich mit einigen Begleitern im Gehölz versteckt gehalten hatte, und überfiel uns. Ich ritt ein Maulthier und mein Führer ein hohes Roß. ‚Vorwärts!‘ rufe ich ihm zu, ‚vorwärts!‘ und sporne selbst mein Thier, indem ich die Hand an mein Schwert lege. Mein Geleiter aber dreht sein Pferd um, dringt auf mich ein und zerschneidet mit seinem Messer meine Schwertkoppel. Dann stürzen alle die braven Leute auf mich her, nehmen mich im Namen des Herzogs gefangen und schleppen mich gefesselt und geknebelt nach Chillon, wo ich meine zweite Passion ausstehen sollte.“

In das schauerliche Grab von Chillon also warf man den unerschrockenen Kämpen für die religiöse und staatliche Freiheit. Noch zeigt man in einem der düsteren Gewölbe die Säule, an welche er angeschlossen war, und den Ring, der die Kette an seinem Fuße festhielt. Was wurde aus ihm? Was hat er gedacht? Was gelitten? Leider hat er uns nicht, wie in neuerer Zeit Silvio Pellico, seine Gefängnißqualen erzählt. Nur wenige Worte enthalten seine Denkwürdigkeiten von den langen Tagen, welche er im Verließe der Inselveste geschmachtet hat. Er sagt uns blos, daß er nicht sogleich in das dunkle Gewölbe gebracht worden sei, daß man ihn vielmehr zwei Jahre lang in einem Gemache neben der Wohnung des Schloßhauptmanns untergebracht habe, der ihn täglich besuchte und rücksichtsvoll behandelte. Ein Besuch des Herzogs in Chillon machte aber dieser Milde ein jähes Ende.

„Jetzt“ – sagt Bonivard – „steckte mich der Hauptmann in ein Verließ, tiefer als der See, wo ich vier Jahre blieb. Ich weiß nicht, ob er es auf eigenen Antrieb ober auf den Befehl des Herzogs that, allein das weiß ich, daß ich seltsame Muße hatte, zu promeniren, dergestalt, daß ich in den Felsen, welcher das Pflaster meines Käfigs bildete, einen kleinen Fußpfad eingrub, als hätte ich diesen mit einem Hammer ausgehauen.“

In der That sieht man in der erwähnten Krypte noch heute eine kleine Vertiefung, die uns als die Fußbahn des Märtyrers gezeigt zu werden pflegt.

Bonivard ist Chillons berühmtester Gefangener gewesen, derjenige, dessen Name mit dem der Burg für alle Zeilen unzertrennlich verbunden bleibt. Er war es, welchen Lord Byron in seinem gefeierten Gedicht verherrlichen wollte. Als der Poet aber, während eines Regentages im Gasthofe zum Anker in Ouchy bei Lausanne festgehalten, in Einem Zuge seine gewaltigen Verse auf’s Papier warf, da kannte er, wie er in einer späteren Auflage seines „Prisoner of Chillon“ unumwunden eingesteht, Bonivard’s Geschichte noch nicht. So ist sein Held eine reine Schöpfung der Phantasie, keine Gestalt der Wirklichkeit. Der englische Dichter spricht von einem Vater seines Gefangenen, der um des Glaubens willen auf dem Scheiterhaufen geendet habe; von sieben Brüdern seines Heros, von denen drei mit diesem in Chillons Verließe angekettet worden und darin „an seiner Seite“ gestorben seien, er „der allein Ueberlebende von Allen“. Ich brauche nicht erst zu bemerken, daß dies Alles blos Fiction ist. Dennoch hat Byron mehr dafür gethan, Bonivard’s Ruhm in alle Lande hinaus zu tragen, als sämmtliche Geschichtsbücher der Welt, und wer des tapfern Priors von Sanct Victor gedenkt, dem kommt unwillkürlich auch Byron’s Epos in Erinnerung. Jedenfalls hat dies Epos auch den Künstler unserer Illustration begeistert. Er hat sich zu seinem Gemälde den Moment gewählt, wo der Burgwart sich zu seiner letzten Tagesrunde durch die Kerkerhallen der Veste anschickt. Der Alte zündet die Laterne an zu seinem Gange, der ihm ein schwerer ist, wie wir in den traurigen Zügen seines Antlitzes lesen.

„Um etwas milder wird mein Leid:
Mein Hüter zeigt Barmherzigkeit,“

singt Byron. Ob wohl die Tochter, die wir schwermuthsvoll in den abenddämmernden See und auf die Berge drüben hinausblicken sehen, dem Vater, der

„Gewöhnt ist, Schmerz und Qual zu schauen,“

das Herz gerührt hat? Wir dürfen es annehmen, denn das Weib ist ja die natürliche Verbündete aller Leidenden, und wer weiß, ob nicht auch noch ein anderes Interesse für den jüngsten der gefesselten Brüder,

„Für ihn, der schön war wie der Tag,
Mit Augen wie des Himmels Blau,“

ihr die Brust erfüllt? Wer weiß es? Wer weiß es, wie oft sie in der Angst ihrer Seele geknieet haben mag vor dem kleinen Crucifix dort auf des Vaters Tische, inbrünstig zu Gott betend

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