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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

älter als mein Vater, älter als zweiundvierzig Jahre – hu, wie entsetzlich alt! … Aber das half doch Alles nichts, meine Phantasie blieb geschäftig, die interessante Gestalt auszuschmücken – sie war ja eine Sängerin. …

Ich flüchtete mit meinem übervollen Herzen hinüber auf den einsamen Hügel und starrte mit schmerzenden Augen in den schönen, blauen Himmel. … Ob sie mich wohl sah, meine liebe Großmutter, wie ich traurig dasaß? Sie war ganz gewiß nicht böse, daß ich an Christine dachte – sie hatte ihr ja verziehen! …




8.

Vier Wochen waren seit dem Tode meiner Großmutter verstrichen. Ich war dabei, als man sie auf den Gottesacker des nächsten Dorfes in die Erde bettete. Der gute, alte Pfarrer betete so inbrünstig um Frieden für die Hingeschiedene, als läge sein liebstes Beichtkind zu seinen Füßen, und Heinz schien auch vergessen zu haben, daß die wenigen Bretter da unten eine getaufte, und dem Christenthum dennoch wieder abgewendete Jüdin umschlossen – er weinte bitterlich. … Nun blühten schon die bunten Sommerblumen auf dem neuen Hügel; sie stiegen leicht und zwanglos aus dem dunklen Erdreich, wie liebliche Traumgebilde der drunten Schlafenden, und nickten helläugig in die sonnige Welt hinein.

Der einsame Dierkhof hatte just seine schönste Zeit; er lag mitten in einem pfirsichfarbenen Bett – die Haide fing an zu blühen, und die Bienenschwärme, die bis dahin auf den goldenen Rübsamenfeldern und in der Buchweizenblüthe geschwelgt hatten, breiteten sich nun wonnetrunken über den unabsehbaren, honigtriefenden Flächen aus. … Nun summte sie wieder bestrickend und einlullend um das traute Dach, die uralte eintönige Haidemelodie! Aus den Lüften taumelten meine Lieblinge, die blauen Schmetterlinge, so massenhaft nieder, als sei der strahlende Sommerhimmel droben in Stückchen zerflattert; über die Sandblößen schlüpften goldflimmernde Laufkäfer, und an den Wiesen- und Gartenblumen hingen Perlmuttervögel, der prächtige Admiral und das Pfauenauge.

Sonst war ich den Schmetterlingen nachgelaufen, hatte sie eingefangen, mich ergötzt an dem wunderbaren Farbenspiel der Flügel, und sie dann wieder davonfliegen lassen – so hatte ich oft halbe Tage lang die Haide durchschwärmt; das war jetzt anders geworden. Ich hielt mich viel im Zimmer meiner Großmutter auf, das mit seinen alterthümlichen, aus dem Judenhause stammenden Möbeln einen geheimnißvollen Reiz auf mich ausübte. Es lag und stand da Alles an seinem alten Platze, nicht ein Geräth war verrückt worden, die große Uhr wurde wieder pünktlich aufgezogen, und damit Nichts fehle, was den Glauben erwecken konnte, die Verstorbene walte noch in dem Raume, hatte Ilse die niedergebrannten Kerzen auf dem Silberleuchter durch neue ersetzt.

Sie schloß mir auch da und dort eine Truhe oder einen Spind auf; die Fächer waren meist leer; meine Großmutter hatte bei ihrer Flucht aus der Welt allen Ballast von sich geworfen. Dafür war mir aber auch jedes beschriebene Papierblättchen, jeder zerstäubende Blumenrest ein interessanter Fund.

In einem Schranke hingen auch noch verschiedene Kleidungsstücke, die meine Großmutter aber nie in der Haide getragen hatte. Eines Tages nahm Ilse ein schwarzes, wollenes Kleid aus dem Schranke, zertrennte es und fing an, zuzuschneiden – sie hatte in der Stadt schneidern gelernt, und das war ihr Stolz. … Ich war sehr erschrocken, als sie mich aufforderte, zur Anprobe in das Werk ihrer Hände zu schlüpfen – das Ding sah aus wie ein Küraß.

„Ilse, nur das nicht!“ protestirte ich schaudernd und zerrte ängstlich an dem pressenden Halsausschnitt, der mir dicht an der Kehle saß, und mein Ellenbogen gab sich insgeheim alle Mühe, die enge, drückende Aermelnaht zu zersprengen.

„Ei was – wirst Dich schon d’ran gewöhnen!“ sagte sie kaltblütig und schneiderte weiter.

Wir saßen im Baumhof unter den Eichen, wohin ich einen Tisch und Stühle getragen hatte. Draußen über der Ebene brütete die flimmernde Nachmittagssonnenhitze; aber hier war es schattig kühl und still; nur die Bienen summten, und droben im Nest schrieen die jungen Elstern. Ich hatte den übergroßen, runden, braunen Strohhut unter den Händen, den mir Ilse vor circa fünf Sommern aus der Stadt hatte kommen lassen, und trennte auf ihr Geheiß das Rosaband herunter, das die Wonne meiner Augen gewesen war.

Da kam Heinz aus dem nächsten Dorfe zurück und legte einen Brief vor Ilse hin.

Mein Vater hatte auf die ihm telegraphisch mitgetheilte Nachricht vom Ableben meiner Großmutter hin geschrieben und sein Nichterscheinen bei der Beerdigung mit ernstlichem Kranksein entschuldigt. Seitdem war die Correspondenz zwischen ihm und Ilse eine ziemlich lebhafte geworden; um was es sich handelte, wußte ich nicht, ich bekam keine Zeile zu sehen; aber so viel war mir bekannt, daß zwischen Ilse’s letztem Schreiben und der Antwort meines Vaters, die sie da eben vor meinen Augen überlas, kaum fünf Tage lagen.

„Nichts da!“ sagte sie und steckte den Brief in die Tasche. „Uebermorgen reisen wir – dabei bleibt’s!“

Hut und Scheere fielen mir aus den Händen.

„Reisen wir!“ wiederholte ich mit stockendem Athem. „Du willst mit Heinz fort? … Ihr wollt mich mutterseelenallein auf dem Dierkhofe lassen?“

„O je, da wär’ er gut aufgehoben, der arme Dierkhof!“ rief sie, und zum ersten Male wieder seit dem Tode meiner Großmutter flog ein schwaches Lächeln über ihre Züge. „Närrisches Ding, Du sollst fort!“

Ich stand auf und warf meinen Stuhl so heftig zurück, daß er polternd hinten überfiel.

„Ich? – wohin denn?“ stieß ich hervor.

„In die Stadt,“ lautete die lakonische Antwort.

Das ganze sonnige Haideland draußen und die urkräftigen, rauschenden Eichen über mir versanken – die entsetzliche, dunkle Hinterstube empfing mich, und ich sah in das feuchte, karge Gärtchen inmitten der vier grünangelaufenen Häuserwände.

„Und was soll ich in der Stadt?“ preßte ich heraus.

„Lernen. –“

„Ich gehe nicht mit, Ilse, darauf kannst Du Dich verlassen!“ erklärte ich entschieden, während ich mit den bitteren, heißen Thränen rang. „Mache mit mir, was Du willst – aber Du sollst sehen, ich klammere mich in der letzten Stunde draußen am Hausthorpfosten an. … Ob Du das Herz hast, mich fortzuschleppen?“ Ich schüttelte Heinz, der wie eine Bildsäule mit offenem Munde dastand, verzweiflungsvoll am Aermel. „Hörst Du denn nicht – fort soll ich! … Wirst Du das leiden, Heinz?“

„Ist’s den wirklich wahr, Ilse?“ fragte er beklommen und faltete die ungeschlachten Hände ineinander.

„Nun sehe mir Einer die zwei Kinder hier an – thun sie doch wirklich, als sollte der Kleinen der Hals abgeschnitten werden!“ schalt sie; aber ich sah recht gut, daß ihr gar nicht wohl zu Muthe war bei meiner ausbrechenden Heftigkeit. „Meinst Du denn, es kann das ganze Lebenlang so fortgehen, Heinz, daß das Kind wie ein Heide den ganzen lieben Tag über draußen herumtobt und mir Abends barfuß, mit Schuhen und Strümpfen in der Hand, heimkommt? … Sie kann nichts und versteht nichts und läuft fort wie eine wilde Katze, wenn ihr ein fremdes Gesicht über den Weg geht! … Wo soll’s endlich hinaus? … Sei vernünftig, Kind!“ sagte sie zu mir und zog mich wie ein kleines Kind auf ihre Kniee. „Ich bringe Dich zu Deinem Vater – nur zwei Jahre bleibe draußen und lerne was Rechtes, und wenn es Dir durchaus nicht gefallen will, da kommst Du wieder heim auf den Dierkhof, und nachher bleiben wir zusammen, gelt?“

Zwei Jahre! Das war ja eine ganze Ewigkeit! … Zweimal sollte die Haide blühen, sollten die Störche fortziehen und wiederkommen, und ich war nicht auf dem Dierkhof; ich steckte zwischen vier dumpfen Wänden und knebelte am verhaßten Strickstrumpf, oder mußte wohl gar Schreibübungen halten und neue Bibelsprüche auswendig lernen! … Ich schauderte und schüttelte mich, und jede Fiber in mir stählte sich zu Aufruhr und energischem Widerstand.

„Ilse, da lasse mich nur gleich drüben auf dem Gottesacker einscharren!“ sagte ich trotzig. „In die entsetzliche Hinterstube bringst Du mich nicht –“

„Dummes Zeug!“ unterbrach sie mich. „Glaubst Du denn, Dein Vater kann sie im Koffer mitnehmen? … Er ist ja fortgezogen, und Vieles ist anders geworden – nun wohnt er ja in K.“

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