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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

und eine Besserung wohl kaum zu hoffen ist. Neben ihm ruht bleich und todesmatt ein französischer Corporal, dessen zerschossener Unterkiefer es ihm unmöglich macht, sich der ihm zur Seite knieenden Landsmännin verständlich zu machen. Sein Nachbar, ein Unterofficier mit verwundetem Fuß, läßt sich die Suppe trefflich schmecken, die ihm ein armes französisches Weib reicht, welche, als sie von den vergessenen Verwundeten gehört, sammt ihren Nachbarinnen herbeigeeilt war, um mit einem Theil ihres eben bereiteten Diners die Hungernden zu sättigen. Auch die Cameraden, welche die Armen zuerst gefunden, schleppen herbei, was eben aufzutreiben ist, und freuen sich, wenn ihr eigenes Abendbrod den Leidenden mundet.

„Hier, oller Junge, iß und laß Dir de Bulljong gut bekommen,“ tönt eine tiefe Baßstimme hinter der Holzwand hervor, „wirst och woll Hunger haben, he?“

„Ja, den habe ich, aber die Augen brennen mir so und ich kann auch nicht alleine essen,“ antwortet eine weinerliche Stimme.

„Der arme Kerl ist durch beide Augen geschossen,“ flüstert mir ein junger siebzehnjähriger Elsässer, mit zerschossener Hüfte, zu. „Auch sein Verstand scheint gelitten zu haben, er muß gefüttert werden, wie ein kleines Kind.“

Rasch eile ich zu dem Unglücklichen im zweiten Raum, in welchem acht Verwundete liegen. Ein schmächtiger, blutjunger Mensch sitzt mit verhülltem Haupt auf dem Strohlager; sein starker, bärtiger Camerad sucht, über ihn gebeugt, den armen Geblendeten zu füttern, aber so gut der Wille, so groß ist seine Ungeschicklichkeit.

„O, wäre doch die Schwester da!“ jammert der Arme und läßt trostlos das Haupt auf die Brust sinken.

„Hier ist eine Schwester,“ tröste ich und kniee an seinem Lager nieder.

„Eine Schwester, ach Gott, eine Schwester!“ jubelt er auf und greift nach meinem Kleid welches er krampfhaft festhält. „Ach, Schwester, Sie dürfen mich nicht verlassen, auch in St. Marie hatten wir eine Schwester und sie war mir so gut, o, so gut, ich habe geweint, als man mich von ihr fortgenommen.“

Geweint! als ob die armen ausgeschossenen Augen noch Thränen hätten. Aber er kannte sein Unglück noch nicht; stets sprach er von der Zeit, in welcher er wieder sehen könnte, und seine Cameraden wagten nicht, ihm seine Hoffnung zu rauben.

„Ja, Camerad, wenn Du sehen kannst, dann kommen wir Alle zu Dir uf Deinen Hof in der Mark und trinken wollen mer alsdann, daß die Haide wackelt,“ bestätigt sein bärtiger Freund.

„Daß die Haide wackelt,“ nickt der Arme, und ein Strahl der Freude fliegt über das junge Gesicht.

Nachdem er gefüttert, seine Wunden verbunden und mit Eis gekühlt sind, muß ich den Armen, so leid er mir thut, verlassen. Am liebsten hätte ich ihn mitgenommen, wäre nicht die Furcht gewesen, der Stabsarzt möchte ihn rauh zurückweisen. – Es dunkelte schon, als ich zu meinen Patienten zurückkehrte. Im Hausflur traf ich Dr. Freitag und bat ihn, sich der Unglücklichen anzunehmen bis zu deren Evacuirung, was er jedenfalls auch gethan haben wird. Mir selbst war es unmöglich, den folgenden Tag nach ihnen zu sehen, auch glaube ich, daß sie Ars schon am nächsten Morgen verlassen hatten.

Leider sollte ich mich überzeugen, daß die Siebenzehn in der evangelischen Schule nicht die Einzigen waren, die man vergessen, oder richtiger gesagt, vernachlässigt hatte. Zwei Tage nach dem Besuch der evangelischen Schule brachten um die Mittagszeit freiwillige Krankenträger einen Franzosen in meinen Saal, der im heftigsten Delirium lag, wild um sich schlug und mit lauter Stimme französische Lieder sang. Auf meine Frage, was dem Armen fehle, wurde mir zur Antwort, daß er, in’s Kreuz geschossen, den Abend vorher mit einer Anzahl Verwundeter von St. Privat gebracht worden sei und wegen Ueberfüllung der Lazarethe die Nacht im offenen Leiterwagen habe zubringen müssen. „Ueberfüllung der Lazarethe“ – und in dem unsrigen, dem besten in Ars, waren wenigstens zehn Betten frei! Die empfindliche Kälte, die während der Nacht geherrscht, und die Sonnenhitze des folgenden Tages, der der Verwundete schutzlos ausgesetzt, hatten dem ohnehin Schwerkranken eine Gehirnentzündung zugezogen, der er nach dreitägigen schrecklichen Kämpfen erlag, ohne auch nur einen Augenblick seine Besinnung wieder erlangt zu haben.




Blätter und Blüthen


„Sie roch nach Petroleum.“ (Mit Abbildung, Seite 572.) Als ich, etwa ein Jahr nach dem Untergang der letzten Maninischen Republik von Venedig in Folge der Eroberung der Stadt durch die Oesterreicher, mit einem deutschen in Venedig wohnenden Freunde eine Gondelfahrt in den Lagunen nach dem Lido hin machte, kamen wir auch an der Insel San Servolo vorüber, auf welcher ein großes Spital und Irrenhaus sich befindet.

„Das ist der traurigste Ort der Welt“ – äußerte hier mein Freund, mit dem Ausdruck tiefer Theilnahme nach dem Irrenhaus hinüberzeigend. „Wie viel edle Gesinnung und feinste Bildung, wie viel Geist und Muth gingen durch das Unglück dieser Stadt zu Grunde und sind dort drüben mit ewiger Nacht bedeckt!“

„So hart hat das Schicksal die tapferen Kämpfer bestraft?“ entgegnete ich.

„Nein! Nicht die Kämpfer! Das Schwerste hatten auch in diesem Kampfe die Frauen zu tragen, und sie sind ihm zu Hunderten geistig erlegen.“

Und nun erzählte mein Freund mir Vieles über den Antheil der venetianischen Frauen und Jungfrauen an der Erhebung der Stadt gegen Oesterreich, von dem ich allerdings in den Zeitungen wenig gelesen hatte. Er berichtigte vor Allem die Anschauung der Touristen über den Charakter der italienischen Frauenschaft, die von den Straßen, Promenaden und von den Theatern aus ihre Schlüsse zögen, ohne das italienische Weib des Hauses zu kennen. „Wenn die Charaktertüchtigkeit des italienischen Mannsvolks nur zur Hälfte an die der Frauen hinanreichte, was wäre dann Italien ein beneidenswerthes Land!“ Das behauptete er nicht nur, sondern bewies es mir mit einer Reihe von Beispielen höchster Opferfähigkeit und Hingabe für die allgemeine Sache aus den untersten wie aus den höchsten Kreisen. „Haynau,“ sagte er, „hatte seinen gefährlichsten Feind erkannt, als er in Brescia Frauen auch aus den höchsten Ständen auspeitschen ließ, und diese Unthat hat mehr als alles Andere dazu beigetragen, Oesterreichs Herrschaft in Italien unmöglich zu machen. Hier, in Venedig, aber kam, als der Aufruhr niedergeworfen war, als die Männer und Jünglinge massenhaft zu flüchten versuchten oder in die Gefangenschaft abgeführt wurden, über die armen Frauen die härteste aller Nachwehen, das bis auf’s Aeußerste erregte heiße Blut sollte plötzlich ordnungskühl werden, der Schmerz sollte sich still in die Winkel verkriechen, aber das war zu viel für Geist und Herz solcher Naturen – und der Irrsinn war der unheimliche Retter der Verzweifelnden. Es sind verehrungswürdige Opfer, die dort und in manchem anderen Irrenhaus am unglücklichsten sind, wenn lichte Augenblicke über sie kommen.“

An jenes Gespräch in den Lagunen muß ich heute denken, so oft ich von den Unthaten der Pariser Frauen und der Commune höre. Wir erfahren auch von dort nur den letzten Act ihrer Betheiligung an dem Aufruhr und sind, wenn wir sie mit Revolver, Messer und Petroleumflasche wüthen sehen, sofort geneigt, Steine gegen sie zu erheben. Und doch muß auch hier Vieles vorausgegangen sein, um alles menschliche Gefühl aus dem Weibe hinauszuhetzen, bis nur noch die Furie übrig bleiben konnte. Nun ist es freilich eine alte Erfahrung, daß der Mensch zu äußerster Grausamkeit nie leichter, als im Bürgerkriege, verführt wird und am entsetzlichsten in dem Kampfe politischer oder religiöser Parteien. Es könnte ein erhebender Gedanke sein, daß das Ideale die Macht hat, die Leidenschaften mit der höchsten Kraft auszurüsten, wenn nicht schließlich das Thier im Menschen allein zum Durchbruch käme.

Die sogenannten „Versailler“ behaupten allerdings, daß Das, was die Wuth der Commune zum Aeußersten reizte, die Massenerschießungen, erst dann ihren Anfang genommen, als die Gegner mit dem Anzünden der Häuser begonnen hätten; – aber die „Pariser“ behaupten, daß die Brandfackel sich an diesem Feuer des unmenschlichen Massenmordes entzündete. Auch in Paris hatten die Frauen sich dem Kampf der Männer angeschlossen, und auch in Paris standen gegen sie die Haynaus auf, nur nicht mit der Peitsche, sondern gleich mit Pulver und Blei. Die Tagesberichte aus dem Straßenkampf von Paris haben haarsträubende Executionen geschildert, und wir würden es vermeiden, ihre Zahl mit einer neuen zu vermehren, wenn die von einem unsrer Berichterstatter uns mitgetheilte nicht einen Blick in eine solche bis zur Rachewuth gehetzte Frauenseele eröffnete und zugleich ein Beispiel wäre, wie cynisch der Leichtsinn mit dem Leben spielte.

Der erste der großen Barricadenkämpfe, der sich vom Concordienplatze rechts gegen die Barricade St. Florentin, welche den Eingang zur Rivolistraße versperrt hatte, dann durch die Rue Royale, rings um die Kirche St. Madeleine und links bis in den Boulevard Malesherbes ausbreitete, war seinem Ende nahe, die nördlichen Prachtgebäude der Rue Royale standen in hellen Flammen, die Insurgenten wichen auf allen Seiten zurück und die Versailler drangen vorwärts, da stürzte aus einem der brennenden Häuser ein Weib in der Volkstracht mit einem Revolver in der Faust und flüchtete zwischen dem Kugelregen hindurch über die Leichenhaufen auf der hohen Freitreppe glücklich in die Madeleine. Als die Truppen auch diese Kirche stürmten, gelang es der Frau, wieder zu fliehen, aber schon am Eingange in den Boulevard de la Madeleine brach sie vor einem der Gefallenen zusammen und ward gefangen. Kolbenstöße schreckten sie auf, aber kaum auf den Beinen, erhob sie den Revolver; ein Faustschlag von hinten her entwaffnete sie, man band ihr die Hände fest und sofort begann das summarische Verfahren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_575.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)