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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Eine feste Industrie-Burg an der Nordsee.


Die Kindheitsjahre des Handels liegen weit, weit hinter uns. Nicht mehr auf einige Meßwochen beschränkt sich das Geschäft – athemlos keuchend jagt das ganze Jahr hindurch ein Tag den andern vor sich hin, alle Länder der Welt sind mit wunderbaren Banden verknüpft, im engen Ring liegen sämmtliche Handelsgebiete beisammen und an Stelle der Messen sind die großen Centralmärkte getreten, welche Jahr aus Jahr ein als Stapelplatz der Erzeugnisse menschlichen Fleißes dienen. Der elektrische Funke und der Dampf sorgen dafür, daß die kolossalen Triebräder in der Maschine des Weltverkehrs keinen Augenblick stille stehen – der alte Zwischenhandel ward zum modernen Welthandel. Wenn früher Meßfreiheit das Palladium des Kaufmannsstandes war, herrscht jetzt die zollfreie Niederlage, entweder durch gewaltige Lagerhäuser vertreten, wie die Docks von London und Liverpool, oder durch Freihäfen, wie Hamburg und Bremen, die selbst nichts Anderes sind als riesige Docks, in denen täglich Massen der kostbarsten Güter aufgestapelt werden, um von dort aus ihren Weg zu allen Zonen zu finden.

Hamburg und Bremen haben die bei den bestehenden localen Verhältnissen für ihren und also auch für Deutschlands Welthandel unentbehrliche Freihafenstellung nach langen Kämpfen und mit schweren Opfern aufrecht gehalten. Als die tief eingreifenden Ereignisse des Jahres 1866 eine neue Zeit für Germaniens Völker anbahnten, als sich mit der Abrundung des Zollvereins das einheitliche deutsche Handelsgebiet bildete, wiederholte eine nichtkundige Handelspolitik die den Schwesterstädten schon seit den Zwanziger Jahren gemachten Vorwürfe, daß sie als „Factoreien des Auslandes“ gelten, sich particularistisch von dem großen Ganzen abschließen wollten – aber stets hat das bessere Verständniß den Sieg davongetragen; die leitenden Staatsmänner Deutschlands erkannten das Mittel zur Lösung der nationalen Aufgabe der Hauptstätten des deutschen Handels als richtig an, die Freihafenstellung blieb, und mit ihr ward den Welthandelsplätzen an der Elbe und Weser der internationale Verkehr unbeengt und ungeschmälert erhalten.

An die Hansestädte und namentlich an Hamburg, den bedeutendsten Handelsplatz des europäischen Festlandes (dessen Waareneinfuhr, nebenbei erwähnt, im Jahre 1869 57,525,301 Centner im Werthe von 427,863,770 Thaler betrug), trat aber die Frage heran, wie neben dem internationalen auch dem nationalen Markte sein Recht zu wahren sei. Für den deutschen Fabrikanten oder Kaufmann, der nach der bekannten zollvereinsländischen Gesetzgebung seine Waaren nicht von Hamburg frei wieder zurückführen konnte, war es nicht rathsam, seine Erzeugnisse, namentlich die Novitäten, den Wechselfällen eines einzigen, wenn auch großen Marktes preiszugeben. Seit dem 1. Mai 1870 aber, dem Tage der Eröffnung der Zollvereinsniederlage in Hamburg, hat der Zollverein auch von diesem Freihafen für sich und seine eigensten Handelsinteressen Besitz ergriffen. Jetzt kann der deutsche Fabrikant oder Kaufmann mit dem reichassortirtesten Lager an dem Weltmarkte Theil nehmen, ohne auf den inländischen Markt zu verzichten, da er für den Fall der Zurückdisponirung seiner Waaren oder eines Theils derselben nach dem Zollverein gegen die Weitläuftigkeiten des Ursprungsnachweises und die Gefahr der Verzollung geschützt ist; die sich gegenseitig unterstützende und ergänzende Wechselwirkung zwischen dem nationalen und dem internationalen Handel bleibt in voller Kraft. Das Bestehen dieser Niederlage ist demnach von unberechenbarer Tragweite für Handel und Industrie des gesammten deutschen Zollvereins.

Der gewaltige Gebäudecomplex, dessen Abbildung den Lesern der Gartenlaube vorgeführt wird, ist einzig in seiner Art, so wegen Großartigkeit der Anlage, wie wegen Eigenthümlichkeit der Einrichtung. Wir finden im gesammten Gebiete des deutschen Zollvereins keine ähnliche Schöpfung, die sich der hamburgischen Niederlage zur Seite stellen ließe. Die in allen größeren Städten Deutschlands bestehenden sogenannten „Packhöfe“ stehen unter ausschließlicher Controle der Zollbehörden. Die in Bremen errichtete Niederlage ist etwas günstiger gestellt; dort nimmt die Verwaltung des Etablissements an der Controle Theil und hat alle Schlüssel in Händen; in Hamburg dagegen ist ein abgetrennter Bezirk des Zollvereins entstanden, dessen Grenzen die Zollbehörden bewachen; innerhalb der Enclave aber ist dem Handel und Verkehr vollkommen freie Bewegung gestattet. Die aus dem Zollverein in die Niederlage einzuführenden Waaren passiren (gewöhnlich per Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn) unter Zollverschluß die kurze Strecke, welche sie durch das Freihafengebiet zurückzulegen haben; aber wenn sie an ihrem Bestimmungsort angelangt sind, wird das Zollschloß vom Waggon genommen und die Güter dem Empfänger ohne irgend welche lästige Zollformalitäten überliefert. Er kann die Waaren in seinem eigenen Magazin, durch seine eigenen Leute lagern und auspacken lassen, sie in größeren ober kleineren Quantitäten verkaufen und versenden; er kann ohne jede amtliche Cognition alle zur Erhaltung der Waaren und zur Erleichterung des Verkaufs geeigneten Manipulationen vornehmen und sie namentlich je nach dem Specialbedarf eines überseeischen Landes adjustiren lassen. Selbst die Betreibung eines mit dem Manufacturwaarengeschäft eng verknüpften Fabricationszweiges, der sogenannten Confection (Verarbeitung von Zeugstoffen zu fertigen Fabrikaten), sowie die Anfertigung der zur Verpackung derselben nöthigen Cartons innerhalb der Niederlage ist gestattet worden und wird hiervon lebhafter Gebrauch gemacht. Neben mehreren anderen Confectionsgeschäften existirt dort eine bedeutende Corsetfabrik, die etwa hundertvierzig Arbeiterinnen innerhalb der Niederlage selbst beschäftigt.

Eben dieselbe hohe Einsicht in die wahren Interessen der Verkehrsverhältnisse Deutschlands, welche die Zollbundesbehörden bei Constituirung der Freihafenstellung Hamburgs und Bremens geleitet hatte, trat auch bei den Verhandlungen wegen Gründung der Niederlage zu Tage. Die Niederlage gereicht dem Freihafen Hamburg, sowie dem gesammten deutschen Zollverein zu gleichmäßigem Vortheil; einer ihrer wesentlichsten Zwecke ist, sich zu der Bedeutung einer permanenten deutschen Industrieausstellung an der Nordsee zu erheben, und aller Voraussicht nach wird sie, wenn die Nachwehen des Krieges verwunden sind, das Ziel bald erreichen.

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Gebäude, deren Bestimmung in obigen Andeutungen darzulegen versucht worden ist.

Stattlich genug nimmt sie sich aus, die auf unserm Bilde vorgeführte Hauptfront, welche dem gegenüber der Niederlage befindlichen Bahnhof der Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn zugewandt ist, einige dreißig einzelne Gebäude, etwa achtzig Magazine (Lagerräume und Comptoire) enthaltend, zu einer einzigen großartigen in Rohbau ausgeführten Façade verbunden. Das in der Mitte liegende, mit einer Kuppel gekrönte Gebäude ist das Zollamt; neben demselben haben ein Post- und ein Telegraphenbureau Platz gefunden. Die gesammten Baulichkeiten bilden ein leicht verschobenes, etwa fünfhunderttausend Quadratfuß großes längliches Viereck, dessen eine Seite unsere Leser vor sich haben; die dieser gegenüber liegende Seite wird von dem großen allgemeinen Lagerschuppen eingenommen, von welchem nachher die Rede sein soll. Die eine der beiden kürzeren Seiten wird von mehreren einzelnen größeren Gebäuden, Magazine und Fabrikräumen enthaltend, ausgefüllt, die andere von dem großem Bahnhofsschuppen gebildet, von welchem Punkte aus die Niederlage durch die Schienen der Verbindungsbahn mit den Verkehrswegen aller Art land-, fluß- und seewärts in Berührung steht. Nur diese Gebäude selbst bilden die Zollgrenze; Mauern, Gräben oder Planken sind nicht vorhanden. Die nach außen gehenden Parterrefenster sind mit einem leichten zierlichen Drahtgewebe versehen, dessen rautenförmiges Muster recht gut mit dem Rohbaustil übereinstimmt.

Hat man eins der von höflichen Zollbeamten in ihren kleidsamen Uniformen beaufsichtigten Thoren durchschritten, so befindet man sich inmitten des geräumigen Vierecks, das noch freien Raum für den in Aussicht genommenen Bau von weiteren vierzig Häusern bietet. Größere unbebaute Flächen in nächster Umgebung der Niederlage sichern auch für fernere Vergrößerung noch Raum. Die inneren Façaden sind in Cementputz ausgeführt. Die abgebildete Rohbau-Façade liegt an der Nordseite; für die nach den übrigen Himmelsgegenden blickenden Fronten wurde auf Wunsch einiger der Mieter der helle Putz vorgezogen, weil durch die auf rothen Ziegelsteinen reflectirenden Sonnenstrahlen die Beurtheilung der Farben der Manufacturwaaren beeinträchtigt werden würde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_567.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)