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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

hatte, dort lag sie hingestreckt unter dem weißen verhüllenden Tuche, nur kenntlich an der prächtigen grauen Flechte, die hervorgeschlüpft war und über den Bettrand hinabhing.

Eine aufgescheuchte Brummfliege zog summend an mir vorüber, und auf dem Silberleuchter an der Decke züngelten die gelben Flammen der Wachskerzen im Luftzuge unruhig hin und her. Das war Alles, was sich regte in dem weiten Zimmer, selbst die Uhr stand still.

Dagegen erscholl nun das erwachende Leben aus dem Vorderhofe herüber. Die Hähne krähten; Spitz fuhr kläffend unter die krakelnden und aufschreienden Hühner, und Mieke verlangte dumpf-brüllend nach der Hand, die ihr das strotzende Euter entleerte. Ueber das Dach her kam die Hauskatze; sie sprang geräuschlos in das Gras des Baumhofes und schlich mit grünfunkelnden Augen unter den Ebereschenbaum, auf welchem ein kleiner Vogel sorglos zwitscherte. Ich bog eben um die Ecke und scheuchte sie fort. Und droben im Reisernest auf dem Dache wurde unter eifrigem Geklapper Toilette gemacht, dann rauschte das Storchenpaar hoch über meinem Haupte hin zum Frühstück nach dem Sumpfe – Alles wie sonst! Nur vor dem Hause schreckte mich Fremdes und Ungewohntes zurück – ein Pferd wieherte in die frische Morgenluft hinaus, und an der niedrigen Umzäunung des Hofes stand mit rückwärts verschränkten Armen der Doctor und schaute über die mit Thau und Sonnengold förmlich überschüttete Haide hin.

Die kleine verstaubte Chaise, die ihn gebracht hatte, stand angeschirrt vor dem Hausthor, und drin auf dem Fleet sah ich Ilse stehen, fest und stramm wie immer. Sie hatte den Eßtisch sauber gedeckt, Tassen und Butterbrod auf der weißen Serviette geordnet und kochte Kaffee für den Arzt.

Ich trat aufgeregt zu ihr.

„Ilse, wie kannst Du das nur? Wie ist Dir das möglich in einem solchen Augenblick?“ rief ich zornig vorwurfsvoll.

„Sollen Andere dursten und hungern, weil ich Schmerz habe?“ fragte sie scharf und strafend. „Hast heute Nacht Deine Großmutter sterben sehen und hast doch nicht von ihr gelernt, daß man in den schlimmsten Stunden den Kopf oben behalten soll!“

Tief beschämt legte ich meine Arme um ihren Hals; denn das Gesicht, das sich mir erst jetzt voll zugewendet, schien wie erstarrt im Jammer, und das urgesunde Roth war bis auf den letzten Schein weggelöscht von den Wangen. Und doch rührten sich die Hände nach wie vor, und nicht die kleinste Pflicht durfte versäumt werden.

Der Doctor kam herein und der Knecht, der ihn gefahren, auch; ich ging ihnen aus dem Wege und trat wieder vor das Haus.

Die Enten des Dierkhofes, sämmtliche Schnäbel nach der Haide hinaus gerichtet, standen am geschlossenen Gatterthor der Einfriedigung, sie warteten sehnsüchtig auf den Augenblick, wo es geöffnet wurde und sie hinausrennen und sich kopfüber in den Fluß stürzen durften. Nur eine balgte sich noch mit einem weißen, zerflatternden Klumpen im Hofe herum – da war ja der Brief, den meine Großmutter heute Nacht vom Fleet aus fortgeschleudert und welchen Ilse nachher so emsig gesucht hatte! Er war bis vor das offene Hausthor geflogen. Ich öffnete den Enten das Gatter und nahm den befreiten Papierknäuel auf; er sah übel zugerichtet aus; das schmutzige Wagenrad war über ihn hingegangen, und der Entenschnabel hatte ihn halb zerfleischt.

Auf das Bänkchen unter dem Ebereschenbaum flüchtend, machte ich mich daran, das Papier auf dem Knie zu glätten und die auseinanderfallenden Stücke zusammenzufügen Es fehlte viel, zudem war die Handschrift eine sehr flüchtige; unter großer Mühe entzifferte ich folgende Stellen:

„Ich habe Dich nie belästigt, weil ich es Dir gegenüber für Ehrensache hielt, den eigenmächtig eingeschlagenen Weg auch selbstständig zu gehen … ‚Die Verlorene‘ hat Alles gethan, damit kein Schatten ihrer Laufbahn auf Dich zurückfalle – nie ist mein eigentlicher Familienname gegen Andere über meine Lippen gekommen, nie habe ich durch irgendwelche Erkundigungen nach Dir und meiner ehemaligen Heimath den Verdacht erregt, als sei ich mit den Sassens verwandt – es hätte sie wahrlich nicht geschändet; denn denke wie Du willst – ich sage es dennoch mit Stolz, man hat mich einstimmig das Wunder, den glänzendsten Stern unserer Zeit genannt.“ … Hier war ein Stück Papier abgerissen, es fehlte – aber auf der andern Seite des Bogens las ich weiter: „Nun ist ein schweres Unglück über mich hereingebrochen – wohin soll ich gehen, wenn nicht zu Dir? … Ich habe die Stimme verloren, meine kostbare Stimme! Die Aerzte sagen, eine Badecur in Deutschland könne sie mir zurückgeben. Aber ich stehe da mit leeren Händen; durch die gewissenlose Verwaltung Anderer ist mein Vermögen bis auf den letzten Groschen verloren gegangen, … Auf den Knieen liege ich vor Dir, die Du im Wohlleben schwimmst, die Du nie erfahren hast, was Noth, grimme Noth ist – ich könnte Dir viel erzählen von schlaflosen, qualvollen Nächten. … Vergiß nur einmal, nur auf eine Stunde, daß ich unfolgsam war, und gieb mir die Mittel, mich zu retten! Was sind einige Hundert Thaler für Dich, die“ – über das Folgende lief die breite schwarze Spur des Wagenrades, die ohnehin blassen Schriftzüge waren total zerkratzt und verwischt. Auf einem herabhängenden Fetzen des zweiten Blattes stand noch ziemlich lesbar die Adresse der Schreiberin, und auf einem andern die zwei Worte, die genügt hatten, meine Großmutter in schäumende Wuth zu versetzen, die Unterschrift „Deine Christine.“

Wer war diese Christine? Dieses Wunder, der glänzendste Stern unserer Zeit? …

Die Stelle „Auf den Knieen liege ich vor Dir!“ machte auf mein einfaches, unverbildetes Gemüth einen ungeheuer dramatischen Eindruck. Ich sah sofort das schlankste Ritterfräulein aus einem meiner Bilderbücher in die Kniee sinken und die weißen Hände flehend erheben. … Und die Stimme hatte sie verloren, ihre kostbare Stimme! … Meine Hände fuhren unwillkürlich nach dem Halse – wie mußte das entsetzlich sein, wenn man mit voller Brust aushob, um die Töne hinausklingen zu lassen, und die Kehle versagte und blieb stumm!

Weder Fräulein Streit, noch Ilse hatten je auch nur mit einer Silbe jener „Verlorenen“ gedacht, und doch mußte sie meiner Großmutter sehr nahe gestanden haben, denn sie war ihr letzter Gedanke gewesen. Jetzt erst erschütterte mich das feierliche „Christine, ich verzeihe!“ in tiefinnerster Seele; unwillkürlich mußte ich an den verlorenen Sohn denken, der im tiefsten, stillsten Herzenswinkel des Vaters doch das geliebte Kind geblieben war.

(Fortsetzung folgt.)


„Rumänier –“.

Das Land, das von den Karpathen und dem mächtigen Arm der Donau, kurz vor deren Einzug in das Schwarze Meer, umschlossen ist, der alte Zankapfel der drei Kaiser von Rußland, Oesterreich und der Türkei, das jetzt sogenannte Rumänien, ist in jüngster Zeit nicht nur Deutschlands Dynastien und Verkehrsbewegung näher, sondern auch weiter heraus in das Licht der Geschichte getreten. Ein deutsches Fürstenpaar sitzt dort auf einem nichts weniger als weichen Thron, im tagtäglichen Kampf mit der Halbcultur des gesammten Volks und dem noch schlimmeren Zustande der Bojaren.

Unser heutiger Artikel führt uns ein Bild aus dem Volksleben vor; wird auch der Schmuggel keineswegs nur von der untersten Classe ausgeübt, so hat er in ihr doch seine vorzüglichsten und meisten Vertreter. Einen Einblick in die höhere Gesellschaft, die Kreise der Bojaren, bietet uns ein anderer Artikel, den wir in einer der nächsten Nummern diesem nachfolgen lassen.

Zum Schmuggeln gehört das passende Terrain, und dieses bietet kein Gebirg in reicherem Maße als die Karpathen. Sie sind es, welche den Schmuggel zwischen dem österreichischen Siebenbürgen, dem Banat und Galizien und der rumänischen Bevölkerung der Moldau und Walachei so gewinnreich und verlockend zugleich machen.

Die Karpathen sind bekanntlich ein Rückengebirge, und man kann die Breite desselben im Durchschnitt auf neun bis zehn deutsche Meilen anschlagen. Alle Pässe derselben führen, mit Ausnahme des Rothen-Thurmpasses, den die Aluta durchströmt, aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_564.jpg&oldid=- (Version vom 31.8.2018)