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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


folgendes Resultat gefunden: auch an den weißen Stellen ist der Farbstoff reich abgelagert, er macht nur auf das betrachtende Auge nicht den farbigen Eindruck, weil das Haar an seinen äußeren Rindenschichten aufgelockert ist und zwischen den gelockerten Fasern eine große Zahl feiner Luftbläschen und Luftsäulchen enthält; solche feine, in den verschiedensten Ebenen über einander gelagerte Luftsäulchen und -Bläschen reflectiren das auffallende Licht mit ziemlich starkem Glanze, lassen die Lichtstrahlen zu den farbigen Körnchen des Haares erst gar nicht hindringen und erzeugen so durch den Reflex die weiße Farbe.

Diese Beobachtung erweckt nun den Gedanken: vielleicht beruht das Ergrauen des Haares zuweilen auf einer solchen Auftreibung und Luftanfüllung des Haares; vielleicht sind namentlich die Fälle plötzlich eintretenden Ergrauens in solcher Weise zu erklären.

Es wird nämlich, wie ja wohl allgemein bekannt, wiederholt berichtet, daß bei einzelnen Personen nach außergewöhnlich starken Gemüthsbewegungen das Haupthaar in einer Nacht oder in wenigen Tagen erbleicht sei. Am bekanntesten ist das Beispiel der Königin Marie Antoinette: sobald sie ihre Verurtheilung zum Tode erfahren, wurde ihr Haar innerhalb weniger Stunden oder Tage grau. Im vorigen Jahre wurde von einem Arzt in Hamburg folgender Fall berichtet. Beim Ueberfluthen der Elbe in Hamburg wurde eine eigenthümlich gebaute Kellerwohnung plötzlich unter Wasser gesetzt; in dem Keller wohnten ein Mann in mittleren Jahren und sein kleiner Sohn, der im tiefen Genesungsschlaf nach einer schweren Krankheit sich befand; in der allgemeinen durch das plötzliche Steigen des Wassers bedingten Aufregung dachte keiner der Hausbewohner an die Unglücklichen im Keller. Das Wasser stieg immer höher, der Vater saß auf dem Bett, den Knaben in seinen Armen, das Wasser reichte ihm bis über die Kniee; das Zimmer war so niedrig, daß der Mann nicht aufrecht stehen konnte; die Fluth stieg stetig weiter. Der Vater gab sich und sein Kind verloren – indeß im letzten Moment kam noch Hülfe. Der Knabe genas vollständig, der Vater überstand die entsetzliche doppelte Todesangst, aber sein bis dahin dunkles Haar war in der einen Nacht grau geworden. Leider hat der Arzt das Haar nicht mikroskopisch untersucht. Eine solche Untersuchung hat meines Wissens unter den hierher gehörigen Fällen nur einmal stattgefunden und zwar Seitens eines namhaften Fachmannes in Greifswald. Es betraf einen Mann in jüngeren Jahren, der mehrere Tage im Trinkerwahnsinn eine hohe Aufregung überstand und während dieser Tage ergraute; das Mikroskop zeigte an den ergrauten Stellen den Farbstoff vorhanden, aber das Haar war daselbst auseinandergefasert und mit Luft erfüllt: also völlig derselbe Zustand wie in den beiden oben erwähnten Fällen. Die Bekannten des Kranken, welche ihn nach seiner Genesung im Hospital besuchten, waren äußerst erstaunt, ihn mit Greisenhaar wiederzufinden.

Leider beseitigt auch diese Beobachtung, welche im Uebrigen den Anforderungen exacter Wissenschaftlichkeit entspricht, nicht den hauptsächlichsten Zweifel, der allen diesen Mittheilungen gegenüber besteht. Es liegt nämlich folgende Vermuthung nahe: das graue Haar war schon Jahre lang da, bevor die aufregenden Tage eintraten, nur wurde, um das unlieb angesehene Grau zu verbergen, ein Farbstoff angewendet; in den Tagen der Aufregung hatte der Mann oder die Frau keine Gelegenheit, die färbende Pomade zu brauchen, oder er verlor gegenüber den großen Erschütterungen die Lust dazu, weil es ihm nicht mehr lohnend schien, das Zeichen vorzeitigen Alters zu verhüllen, oder weil er es für klug fand, nun, da etwas Außergewöhnliches ihn betroffen hatte, dieses Außergewöhnliche auch für die Ursache seiner (wie seine Umgebung glaubt) plötzlich entstandenen Haarveränderung anzugeben.

Diese Vermuthung ist nicht abzuweisen: in keinem der berichteten Fälle war das Haar vor dem Eintritt des aufregenden Ereignisses von einem zuverlässigen Fachmanne mikroskopisch untersucht worden; man war mithin auf die Angaben des Betroffenen allein angewiesen. Bloße subjective Angaben in einer solchen Lage, in welcher eine kleine Lüge nicht für unrecht gehalten wird, bilden aber keine Basis für die wissenschaftliche Feststellung einer zweifelhaften Thatsache.

Wenn aber ein solches plötzliches Ergrauen des fertig gebildeten farbigen Haares wirklich möglich sein sollte, so kommt es jedenfalls außerordentlich selten vor. Und ich will nach den Erfahrungen, welche ich wiederholt gemacht habe, noch auf eine Irrthumsquelle hinweisen. Wenn einem Manne in mittleren Jahren die Gattin nach einer mehrwöchentlichen Krankheit dahinstirbt, oder einer Mutter der bis zum Ausbruch der Krankheit blühende Sohn, oder wenn ein Kaufmann durch den unerwartet ausgebrochenen Bankerott eines Geschäftsfreundes sein eigenes Vermögen und seine kaufmännische Ehre bedroht sieht und nun einige Wochen hindurch die tiefsten Gemüthsbewegungen und die höchsten Anspannungen des Geistes zu überstehen hat, dann geschieht es wohl, daß die gewaltige Erschütterung des Gesammtorganismus auch die Haarbildungsstätte umwühlt: ein Theil des Haares, welches fortan gebildet wird, enthält keinen Farbstoff mehr. Die Angehörigen und Bekannten sagen dann: „Sein Haar ist darüber grau geworden!“ Prüft man aufmerksam ein solches Haar, so sieht man, daß vielfach dasjenige Stück des Haares, welches dicht an der Kopfhaut sich befindet, farblos ist; niemals habe ich in einem solchen Falle (falls eben nicht schon vorher graues Haar vorhanden war) auch nur ein einziges Haar in seiner ganzen Ausdehnung oder an einer von der Kopfhaut mehr entfernten Stelle grau gefunden; und bei der mikroskopischen Untersuchung ergab sich, daß an den farblos erscheinenden Partieen der Farbstoff auch wirklich fehlte.

Nach meiner Meinung steht diese sehr interessante Frage folgendermaßen: es ist noch nicht ein einziges Mal zuverlässig festgestellt, daß ein farbiges Haupthaar in seiner ganzen Ausdehnung oder auch nur in einem Stück desselben weiß geworden wäre; es erfolgt vielmehr die Entfärbung, soweit die genaue Beobachtung reicht, stets in der Weise, daß das später wachsende Stück des Haares farblos gebildet wird, oder (was für den in Rede stehenden Punkt auf dasselbe hinausläuft) so, daß das gefärbte Haar ausfällt und der neu sprossende Nachwuchs grau erscheint. Ich sage: es ist eine andere Art des Ergrauens des Haupthaares auch nicht ein einziges Mal zuverlässig festgestellt. Und wenn mich Jemand, wie das oft geschieht, fragt: „Glauben Sie an das plötzliche Ergrauen?“ so antworte ich ihm stets: „In naturwissenschaftlichen Dingen soll man nicht sagen: ich glaube oder ich glaube nicht! Man soll beobachten und forschen, um zur Erkenntniß, zur Wahrheit zu kommen! Man soll keinen Glauben darüber haben; man soll sich wenigstens mit dem Glauben nie genügen lassen!“

Die in Rede stehende Frage ist durch Beobachtung ganz sicher zu lösen. Und ich habe (nach den vielen, mir über die früheren Aufsätze aus allen Ländern zugegangenen Briefen) die Hoffnung, es werden sehr viele Leser dieser Zeilen sich für die Frage interessiren und selbst Beobachter werden. Aber richtige Beobachter, das heißt Beobachter mit unbefangenem Auge, ohne Voreingenommenheit. Wer einen bezüglichen, aufklärenden Fall wahrzunehmen glaubt, der controlire seine eigene Wahrnehmung durch Heranziehen eines Sachverständigen oder theile mir freundlich einige Zeilen mit, denn eine einzige vollständig constatirte Thatsache würde diese Frage, über welche die Aerzte seit zweitausenddreihundert Jahren schwankender und verschiedener Meinung sind, definitiv lösen. Aber der Sachverständige, das heißt der Fachmann muß hinzugezogen werden, damit eine genaue mikroskopische Untersuchung angestellt werde und damit die Mittheilung auch die verlangte wissenschaftliche Glaubwürdigkeit erhalte.

Es ist nämlich die Möglichkeit des Ergrauens eines fertig gebildeten, bis dahin farbigen Haares nicht abzustreiten und es liegt hierüber eine Mittheilung vor, die große Beachtung verdient. Ein zuverlässiger französischer Beobachter, Brown-Sequard, (ich nenne in diesem Falle den Namen; oben habe ich aus guten Gründen einige Autoren nicht namentlich bezeichnet) hat vor einem Jahre etwa Folgendes über sich berichtet: er fand an seinem dunklen Barte eines Morgens an einer umschriebenen Stelle einige Haare grau; es überraschte ihn diese Wahrnehmung und um festzustellen, wie es mit dem Ergrauen zugehe, zog er die entfärbten Haare mit einer Pincette sorgfältig aus; am nächsten Tage fanden sich in der nächsten Nachbarschaft jener ersten Stelle wiederum einige Haare ganz grau, er zog auch diese aus und am nächsten Morgen sah er abermals einige Haare entfärbt. Leider ist diese Beobachtung, obwohl sie von einem sehr angesehenen Fachmanne ausgeht, auch den Forderungen exacter Wissenschaftlichkeit nicht voll entsprechend, es fehlt nämlich die Angabe über die Länge der bezüglichen Haare (dies zu wissen, ist durchaus nöthig) und es

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 554. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_554.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)