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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Niemand gleich im Geschichtenerzählen, wie er schon damals in den Alterthümern seiner Heimath sich ein so ausgebreitetes Wissen angeeignet hatte, daß ihn der kundigste Antiquar um dasselbe hätte beneiden können. Selbst den oberflächlichen Beobachter ließ Scott der Knabe deutlich erkennen, wo die Neigungen und Leistungen Scott’s des Mannes zu suchen sein würden. Deshalb meinten wir auch, bei dieser Jugendperiode des Dichters etwas eingehender verweilen zu müssen, als es für die Harmonie unserer Skizze vielleicht statthaft erscheint.

Wir überschlagen jetzt eine Reihe von Jahren. Scott ist, nach wiederholtem Aufenthalte in Kelso, zur Stadt heimgekehrt, hat die High School, ein noch heute blühendes und auf dem Calton Hill prachtvoll gelegenes Gymnasium, durchlaufen, einige Collegien an der Edinburgher Universität gehört, eine förmliche Lehrzeit als Schreiber bei seinem Vater bestanden und ist schließlich zur höheren juristischen Laufbahn übergetreten, nachdem er von Neuem akademische Studien gemacht hat. Im Juli 1792 sehen wir denn auch den nun einundzwanzigjährigen Jüngling nach üblicher feierlicher Sitte mit Talar und Lockenperrücke des plaidirenden Advocaten geschmückt und damit an der Schwelle zu den höheren und höchsten Richterstellen des Landes angelangt. Der Lahmfuß ist er freilich geblieben. Das aber hat weder seinen jederzeit von den drolligsten Schwänken, Einfällen und Anekdoten überfließenden Humor beeinträchtigt, noch verhindern können, daß er in allen ritterlichen Künsten unter den Ersten glänzte. Wie er im Fußwandern eine überraschende Ausdauer entwickelt und die weitesten und beschwerlichsten Wege nicht scheut, wo es irgendwo ein altes verfallenes Schloß, eine durch Sage und Geschichte geweihte Ruine, einen Denkstein, einen geheimnißvollen Grabhügel und dergleichen zu beschauen giebt, so bringt er es auch in der Kunst der Rossebändigung zu einer bei stubenhockenden Federhelden nicht allzu häufigen Meisterschaft und ist Zeit seines Lebens wacker über Berg und Thal gekleppert. Bis in’s hohe Alter waren ihm die edlen Geschlechter der Pferde und Hunde nicht blos liebe Hausgenossen, vielmehr Unentbehrlichkeiten des Lebens wie Licht und Luft. Welcher deutsche Dichter hat sich jemals einer solchen „Nothdurft“ rühmen können?

Geschrieben, was man in diesem Sinne schreiben nennt, hatte der junge Anwalt noch nichts. Die mannigfaltigen Jugendreimereien, denen er sich gleich allen von einer leidlichen Phantasie bewegten Sterblichen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren schuldig gemacht, sowie unterschiedliche Abhandlungen, welche er als Mitglied eines Juristenclubs statutenmäßig liefern mußte, kommen hierbei natürlich nicht in Betracht. Wohl keiner seiner Freunde besaß eine Ahnung von dem Dichtergenius, der in dem lustigen Cumpan mit dem gemüthlichen runden Gesicht und dem trockenen Witze schlummerte; seine geistige Ueberlegenheit erkannten indessen Alle an.

„Walter mochte erscheinen, wann und wo er wollte,“ berichtet einer jener Genossen, „immer übte er eine Herrschaft über uns aus, ohne daß er selbst daran dachte, das Scepter schwingen zu wollen. Instinctiv fühlten wir uns alle von der Gelassenheit und Festigkeit seines Charakters dominirt, während seine milde äußere Form Jedweden bezauberte.“

Noch bis zur heutigen Stunde ist Schottland ein Land, wo auch in der besseren Gesellschaft Trunk und Trunksucht keine kleine Rolle spielen. Vor siebenzig Jahren aber ward dort in einer Weise gezecht, daß unsere germanischen Vorväter ihre Freude daran gehabt haben würden. Punsch- und Weingelage, wie sie uns Hogarth malt, waren bei Jung und Alt allnächtliche Ordnung, und der Kreis, in welchem Scott verkehrte, bildete keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Unser junger Advocat zählte zwar zu den mäßigsten seiner Genossen, scheint aber doch Gott Bacchus ziemlich reichliche Libationen dargebracht zu haben. Wenigstens müssen wir dies daraus schließen, daß er dem aus dem Vaterhause zu seinem Reiterregimente abgehenden ältesten Sohne sich selbst als abschreckendes Beispiel eines allzu großen Durstes aufstellte. Auch bei dem wildesten Convivium behauptete er jedoch stets sein geistiges Uebergewicht. „Ein paar Worte von Walter Scott waren hinreichend, die leicht in Zwist gerathenden jungen Hitzköpfe wieder zu beruhigen.“

In all diesem stürmischen Treiben verlor aber unser Poet nie den Ernst des Lebens aus den Augen, nie das Ziel, dem er, vielleicht unbewußt noch, zustrebte. Wie er wacker trank, ebenso energisch konnte er auch arbeiten und studiren.

„War ich einmal im Geschirr,“ schreibt er selbst, „so zog kein Mensch braver als ich. Auf Einem Sitze habe ich einmal hundertundzwanzig Folioseiten geschrieben, ohne mir eine Minute Ruhe zu gönnen und einen Bissen über die Lippen zu bringen.“

Gesundheit der Seele und, bis auf den dienstuntauglichen Fuß, auch Gesundheit des Leibes, das war der solche Grund, auf dem sich die nun bald ihren Anfang nehmende unerschöpfliche Dichter- und Schriftstellerthätigkeit Walter Scott’s aufbaute. Wie wenig ihm sein Gebrechen die freie Körperbewegung verkümmerte, erhellt unter Anderem auch aus der Thatsache, daß er mehrere Jahre hindurch als Officier einem Corps von freiwilligen Reitern angehörte, welches man Anfangs des Jahres 1797 in’s Leben gerufen hatte, als die Angst vor einem feindlichen Einfalle der Franzosen ganz Großbritannien in Athem hielt. Scott war es, der bei den stundenlangen ermüdenden Exercitien alle seine Cameraden durch seinen Eifer mit fortriß.

Um dieselbe Zeit erschien das erste Erzeugniß seiner Feder schwarz auf weiß gedruckt, und wir dürfen es uns schon zur Ehre anrechnen, daß die deutsche Literatur es gewesen ist, die seine Dichterschwingen entfaltete. Deutsch zu lernen begann damals in England Mode zu werden. Auch Scott gab sich diesem fashionablen neuen Studium hin, welches rasch seine Seele gefangen nahm. Unter der Anleitung einer hochgebildeten und poetisch empfänglichen Deutschen, einer Gräfin Brühl, die einen seiner Verwandten geheirathet hatte, las er Goethe und Schiller – Werther, Götz, Don Carlos – ja, er wagte sich sogar an Kant heran. Vor Allem gefesselt aber fühlte er sich von Bürger. Das war eine ihm verwandte poetische Natur. Der Volkston, welchen dieser in seinen Balladen so voll und rein angeschlagen hat, wie kaum Jemand vor und nach ihm, traf die gleichschwingende Saite im Herzen Walter Scott’s. Allein nicht blos empfangen wollte er, er wollte wiedergeben, Anderen mittheilen, was ihn so gewaltig gepackt hatte, und so übersetzte er, mit Beihülfe seiner deutschen Freundin, die „Leonore“ und den „wilden Jäger“, denen später noch eine vollständige Uebertragung von Goethe’s Götz von Berlichingen folgte.

Scott’s Arbeit hatte nichts gemein mit einer dilettantischen Erstlingsleistung. Sie überschritt weit das gewöhnliche Uebertragungsniveau – was er gab, war eine wirkliche Nachdichtung, der Wurf eines Löwen und als seine Lehrmeisterin die beiden Balladen ohne sein Vorwissen veröffentlichte, fand das Entzücken seiner mitstrebenden Freunde keine Grenze. Der Dichter war fertig, und zum ersten Male scheint sich Scott selbst jetzt klar bewußt geworden zu sein, worin der Beruf lag, welchen ihm die Götter in die Wiege eingebunden hatten.

Das Eis war nun gebrochen, und fast ohne Unterlaß sehen wir dem geöffneten Quell Dichtung um Dichtung entsprudeln. Von Anfang bis zu Ende war die Poetenlaufbahn Walter Scott’s ein ununterbrochener Triumphzug, dem wir mit raschen Strichen folgen können. Zuvor aber wollen wir noch einen Blick in sein Privatleben werfen.

Dieses hatte mittlerweile eine entscheidende Wandlung erfahren. Mit einigen seiner Freunde auf einem Ausfluge nach den romantischen Seen Westmorelands begriffen, hatte er in einem kleinen Landorte eine junge Dame kennen gelernt. Sie war eine geborene Französin, aus Lyon, lebte aber, mit Mutter und Bruder vor den Schrecken der Revolution geflüchtet, schon seit Jahren in England unter dem Schutze eines vornehmen Edelmannes. Eine reizende Erscheinung von südländischem Anhauch, doch englischer Haltung, machte sie auf den leicht erregten jungen Mann einen mächtigen Eindruck. Auch sie fühlte sich von Geist und Wesen ihres Verehrers sympathisch berührt, und am Christheiligenabend 1797 wurde Charlotte Charpentier – so hieß die vom Dichter Erkorene – Scott’s Gattin, um, wie er selbst der vor ihm Scheidenden nachruft, „ihm treue Gefährtin zu sein in Gut und Böse“.

(Schluß folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_519.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)