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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


schottische Erzähler bereitet hat, und die Gestalten einer Jeanie Deans, eines Waverley, eines Rob Roy, einer Meg Merrilis, eines Ivanhoe, einer Rebekka – sie sind uns nicht blos Gebilde der Dichterphantasie, sie sind uns Menschen von Fleisch und Blut gewesen, die wir geliebt oder gehaßt, verehrt oder verabscheut haben je nach ihrem Thun und Trachten, deren Lust und Leid, deren Sehnen und Hoffen, deren Bangen und Härmen uns die Herzen schlagen machte, als entquöllen Freude und Weh unserer eigenen Brust. Gewiß, verdient irgend ein Dichter aus dem Staube der Bücherschränke in die Hände der Leser zurückgeführt zu werden, so ist es Walter Scott, und wir sind überzeugt, daß das unser wartende Jubel- und Gedenkfest, zu welchem seine Landsleute seit Monaten schon umfassende Vorbereitungen treffen, zu dieser seiner Rehabilitirung beitragen wird.

Mit nur wenigen Ausnahmen ist das schottische Heimathland der locale Boden von Scott’s vollendetsten Dichtungen. Er ist es gewesen, der uns das alte Caledonien erst erschlossen hat. Denn was wußten wir vor ihm von dem Lande hinter den fernen „grauen Nebelbergen“, nach welchen unser Schiller seine Marie Stuart sich sehnen läßt? Mythisch und schemenhaft wie Ossian selbst und seine gaelischen Helden blieb, was er uns von schottischer Sitte und Scenerie gesungen hat. Erst der große Edinburgher Poet hat uns Land und Leute seiner Heimath in lebensvollen und greifbaren Bildern veranschaulicht. Er ist für uns gleichsam der Columbus Schottlands gewesen.

Auch bei den Engländern selbst hat Walter Scott sein Geburtsland erst in Aufnahme und Mode gebracht. Bisher eine halbe Terra incognita, höchstens vom birkhuhnjagenden Nimrod oder vom Lachs- und Forellenangler durchstreift, ward es fortan ein beliebtes und hochfashionables Lustreiseziel. Alles wollte die Oertlichkeiten der Jungfrau vom See, der Marmion, der Chronik von Canongate, der „Erzählungen meines Wirthes“ und zumal das normannisch-gothische Schlößchen, jenes lauschige Abbotsford, schauen, welches sich der Dichter im „Grenzlande“ – dem „Border“ – an den Ufern des Tweed erbaut und wo er im Kreise der Seinen, mit seinen Pferden und Hunden und Dienern das patriarchalisch-aristokratische Leben eines alten schottischen „Laird“ geführt hat.

Es ist bekannt, daß auf den in Edinburgh Ankommenden Lage, landschaftliche und architektonische Scenerie gleich überwältigend eindringen, mag er, wie ich es that, auf dem großen nordenglischen Schienenwege oder über Leith und Granton, die beiden Haupthäfen der mit sauberen Ortschaften und weißblinkenden Villen wie mit einer Perlenschnur eingefaßten Meeresbucht, sich dem imposanten Edinburgh nahen.

Dasselbe besteht eigentlich aus zwei abgesonderten Städten von durchaus verschiedenem Gepräge, einer Neustadt mit geradlinigen breiten und regelmäßigen Straßen und Plätzen, die noch kein volles Jahrhundert durchlebt hat, und einer Altstadt, welche schon unter Maria Stuart nicht mehr jung war. Letztere umschließt, wie viele monumentale Bauten, so natürlich auch manches ganz respectable Quartier, namentlich an ihrem Süd- und Westende. In einem der letzteren, auf dem mit weitschattenden alten Bäumen und umfänglichen Gärten geschmücktem „Georges’ Square“ wurde dem Sachwalter Scott am 15. August 1771 sein nachmals so hochgefeierter Sohn geboren. Es war ein milder Strandabend im September, als ich zum ersten Male den stillen Platz betrat und vor dem Hause stand, aus dem der Welt ein so reicher Genius aufgehen sollte – ein Bild friedlicherer und traulicherer Abgeschiedenheit inmitten einer volksbelebten Großstadt läßt sich kaum denken. Georges’ Square ist so recht ein Poetenwinkel. Unser Dichter aber hat ihn nur als Kind bewohnt.

Scott’s Vater war einer der renommirtesten Sachwalter Edinburghs. Ein Mann von makelloser, nicht selten freilich an das Starre streifender Ehrenhaftigkeit, genoß er der allgemeinen Achtung seiner Mitbürger und ward, selbst einem alten vornehmen Geschlechte Schottlands entstammend, namentlich von dem umwohnenden Adel mit Vorliebe zum Rechtsbeistande gewählt. Diesem wackern Manne, der sich, wenn man von den nationalen und localen Verschiedenheiten absieht, in mancher Beziehung mit dem Rath Goethe in Frankfurt am Main vergleichen läßt, wurde Walter als das neunte von zwölf Kindern geboren. In den schon erwähnten Lebensnachrichten bezeichnet er sich selber als „ein ungewöhnlich gesundes Kind“, – bis er – anderthalb Jahr alt, nach einem jähen Fieberanfalle plötzlich am rechten Beine erlahmte, um den Gebrauch desselben nie wieder zu erlangen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die beiden großen Zeit-, Landes- und Dichtergenossen, Walter Scott und Lord Byron, verdammt waren, durch Welt und Leben zu hinken!

Um das Gebrechen zu bekämpfen und den seit dem räthselhaften Unfalle fortwährend kränkelnden Knaben zu kräftigen, sandte man ihn, auf den Vorschlag seines Großvaters von mütterlicher Seite, eines der ersten Aerzte und Universitätsprofessoren Edinburghs, zu nahen Verwandten auf’s Land, die in Kelso, einer kleinen, nahe der englischen Grenze gelegenen Stadt, angesessen waren. Während des Aufenthaltes an diesem lieblichen Orte, welchen der Dichter lange nachher noch als den „schönsten und romantischest gelegenen von ganz Schottland“ preist, empfing Scott’s Geisteseigenthümlichkeit zuerst die ihr angemessene Nahrung. An Stadt und Landschaft knüpfen sich zahlreiche Reminiscenzen aus der schottischen Vorzeit, und buchstäblich kaum den Kinderschuhen entwachsen, brachte Walter diesen Ueberlieferungen schon eine begeisterte Theilnahme entgegen. Die Thaten und Kämpfe der alten schottischen Häuptlinge erregten ihm ein Interesse, das weit über seine Jahre hinausging, und die Balladen und Romanzen, welche diese Begebnisse verherrlichten, wurden die Lieblingslectüre des Knaben. Mit einem wunderbaren Gedächtnisse begabt, wußte derselbe schon in Kelso Hunderte solcher Volksdichtungen auswendig und recitirte sie mit einer dramatischen Lebendigkeit, welche Alles in Erstaunen setzte und darthat, wie sehr sein Gemüth davon ergriffen war.

„Der kleine Walter Scott,“ schreibt eine Dame aus jenen Tagen, „ist das merkwürdigste Genie von einem Knaben, das mir jemals vorgekommen. Als ich neulich in seinem Hause zum Besuche war, trug er den Seinigen eben ein Gedicht vor; es war die Schilderung eines Schiffbruchs. Seine Begeisterung stieg mit dem Unwetter. Er erhob Augen und Hände. ‚Da ist der Mast verloren. Sie werden Alle untergehen!‘ In dieser Aufregung wandte er sich zu mir. ‚Das ist zu traurig!‘ sprach er. ‚Ich werde Ihnen lieber etwas Unterhaltendes vortragen.‘ – Nun, für wie alt halten Sie den Knaben? – Er ist soeben sechs Jahre alt geworden! Nicht wahr, das ist kein gewöhnliches Gewächs?“

Eine seiner Tanten theilte und förderte seine Geistesrichtung. Mit einer bei Frauen seltenen Kenntniß der Specialgeschichte ihres Heimathlandes schwelgte sie förmlich in den Erinnerungen an die alten Clan- und Grenzfehden und saß oftmals Tage lang am Lager des nach ärztlicher Vorschrift in das warme Fell eines frisch geschlachteten Thieres eingehüllten kleinen Patienten, ihm von diesen wilden Kriegszügen zu erzählen. Ein begüterter Laird der Nachbarschaft besaß eine wohlversehene Bibliothek, und unermüdlich schleppte daraus die gute Dame Buch auf Buch, Poesie, Geschichte, Reisebeschreibungen, Märchen, für ihren Pflegling herbei, der, sowie er nur die Schwierigkeiten des ABC bemeistert hatte, von einer unersättlichen Lesegier verzehrt wurde. Im Hemde am Kaminfeuer sitzend, las er beim Lichte desselben manchmal bis in die Nacht hinein und schlüpfte erst dann in sein Bett, wenn ihm das Rücken der Stühle in dem unter seinem Schlafgemache gelegenen Speisezimmer verkündete, daß die Seinigen sich von der Abendtafel erhoben, um sich zur Ruhe zu begeben. „Ich glaube, kein Mensch in der Welt hat schon als Kind so viel buntes Zeug zusammengelesen, wie ich,“ sagt Scott an einer anderen Stelle seiner lebensgeschichtlichen Notizen, und wir haben keinen Grund, diesem Zeugnisse den mindesten Zweifel entgegenzusetzen.

Schon damals auch erwachte seine Lust am Sammeln der verschiedenartigsten vaterländischen Alterthümlichkeiten und Reliquien, um sich allmählich zu einer Leidenschaft zu steigern, die ihm später oft ernste Ungelegenheiten bereitete, allein bis zum letzten Hauche seines Odems im Vordergrunde seiner Gedanken und Bestrebungen stand. Gewiß ist es in hohem Grade charakteristisch für die Eigenart Walter Scott’s, daß derselbe schon als zehnjähriges Kind sich Bände voll alter handschriftlicher Balladen und Volkslieder gesammelt hatte.

Der Knabe ist der Vater des Mannes. Bei wenigen Menschen bewahrheitet sich dies in so ausgezeichneter Weise wie bei Scott. Nach der Aeußerung eines seiner frühesten und vertrautesten Freunde documentirte der Erstere bereits in den Kindertagen alle die besonderen Eigenthümlichkeiten, die nachmals das Wesen des großen Dichters ausmachten. Schon in jener Zeit that es ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_518.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)