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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.

„Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?“ fragte er mit consequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede.

Ich lachte ihn aus. „Weißt Du das wieder nicht? … Merk’ auf: Was folgt, auf sechszehn?“

„Siebzehn – was? Siebzehn Jahre? … Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind! – Ist ja nicht wahr!“ – Er hob protestirend beide Hände.

Dieser tiefe Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund, der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen, mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen, er war nicht so ganz im Unrecht. … Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsiren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt. Ich war und blieb ein kleines Wesen, das sich gezwungen sah, auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen; und das nahm mir, nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind, offenbar auch die Berechtigung, mit jedem Jahre älter zu werden.

Trotz alledem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: „Da drüben giebt’s einen extra Geburtstagsspaß, Prinzeßchen – sie graben den alten König aus!“

Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.

Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die rothen Abendgluthen. Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Haide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.

Noch blühte die Erica nicht – glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und wölbte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten, über ein großes und vier kleinere. Sie deckten Riesenleiber, wie der Volksmund sagte, ein verschollenes Geschlecht, unter dessen Schritt einst die Erde seufzte, und das mit mächtiger Faust Felsblöcke wie Kiesel umherwarf. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wachholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen, oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachsthum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.

„Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht,“ sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirn, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten. Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimniß; aber die Vögel, die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten, die um Ginster und Haide taumelnden, blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen, sie alle waren meine Mitwisser. Und still athmend, die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir Anderen, sie hatten Alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen. Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern.

Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigenthum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimath, lag mutterseelenallein in der Haide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie, so lange ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten. … Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leib des Hügels. Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner, schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab, und so oft sie niedersank, war es mir, als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers.

Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von unsäglichem Mitleiden, aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich athemlos an Ort und Stelle Halt machte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.

Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu, jener kindische Schrecken, den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte. Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz.




2.

Am Hügel standen drei Herren in schweigender Erwartung, während mehrere Arbeiter gruben und schaufelten. Auf den gräulichen Lärm hin, den Spitz machte, wandten sich die Fremden einen Augenblick nach uns um, und Einer, anscheinend der Jüngste, unter ihnen, hob den Stock gegen das Thier, als es Miene machte, ihm näher zu kommen. Dann ließ er seine Augen kalt musternd über Heinz und mich hingleiten und kehrte uns wieder den Rücken.

Es war unter der Föhre eingeschlagen worden. Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut; da, wo es gestanden, klaffte eine weite Oeffnung, und oben aus dem Bruch, aus dem elenden Gemisch von Lehm und gelblichem Sande, hingen dicke Wurzeln, Ausläufer der Föhre, herab – sie zeigten das weiße Fleisch, die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten.

„Da wären wir auf dem Stein,“ sagte einer der Herren, als die Werkzeuge klirrend aufschlugen.

Man räumte die letzten Erdschollen hinweg, und es wurde ein mächtiger, roher Felsblock sichtbar.

Die Herren traten seitwärts, indeß die Arbeiter sich anschickten, den Stein wegzuwälzen. Heinz aber rückte gespannt näher; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch und handlich genug. Das rechte Bein weit vorgestreckt, hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste; und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht – ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel. Das aber machte einen Effect, einen Effect, den Ilse hätte sehen müssen.

Der junge Herr, hinter welchem mein guter Freund stand, fuhr herum, als habe er unversehens einen Schlag erhalten. Er maß den unglücklichen Raucher mit einem langen, vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft, um die Rauchwolken zu zerstreuen.

Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken – er war über die Maßen verblüfft. Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht. Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt und eingeschüchtert; ich schämte mich und hob eben den Fuß, um das Weite zu suchen, als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde.

Das fesselte mich sofort wieder an den Boden.

Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen; denn die Herren umdrängten die Oeffnung; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr. Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen, und unwillkürlich wandte ich die Augen weg, denn ich meinte, jetzt müsse etwas Ueberwältigendes kommen.

„Potztausend – das wär’s?“ rief Heinz mit dem Ausdruck überwältigender Ueberraschung.

Ich sah hinüber – und da war es mir für einen Moment, als seien alle Farben und Lichter der Haide erloschen, als falteten alle die blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen und die funkelnden Speere am Horizont, wo waren sie hin? Dort ging nur noch die Sonne unter. … Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart, die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet – eine dunkle, leere Höhle gähnte mich an.

Die Fremden schienen dies Ergebniß ganz in der Ordnung zu finden. Einer, der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte, kroch in die Oeffnung, und der

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