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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


bestimmten Plätze ein. Und nun die Königgrätzer Straße, die Hauptstrecke der Siegesbahn selbst! Ihr Anblick läßt sich nicht schildern – wem es aber zu schauen vergönnt war, der verliert dies Bild nimmermehr aus seinem Gedächtniß. Von ihrem Anfange am Thiergarten bis zu ihrem Ende am Bellealliance-Platze, wo die Statue der Berolina die einziehenden Sieger willkommen heißt, wer zählt die durch Laubgehänge verknüpften Wimpelmasten, welche in unabsehbarer Folge rechts wie links der Straße aufgerichtet prangen? Wer die Fahnen und Standarten in den preußischen und deutschen Farben, die hier wehen; wer die pompösen Banner mit den eingestickten Namen der erfochtenen Siege; wer die Kränze und Guirlanden quer über den Weg und an den Häuserfronten. Wer vermag eine Vorstellung zu geben von dem Leben, das, mit jeder Stunde steigend, vom Morgen bis zum Abend die mehr als eine Viertelmeile lange Straße erfüllt?

Rechts und links wälzt sich ein unermeßlicher Menschenstrom das Trottoir auf und ab, während in der Mitte bis zum Dunkelwerden eine zwiefache Säule von Equipagen, Kremsern, Droschken, Omnibus, Cabriolets, Schlächter- und Bäckerwagen, Brauer- und Sodawasservehikeln ohne eine Secunde Unterbrechung sich unaufhörlich hin und wider bewegt; und bunt wie die Art der Kutschen sind die In- und Aufsassen, die sie tragen: hocharistokratische Damen in blendenden Toiletten, Landleute mit vorsorglich mitgenommenen Fouragekörben und Brodkobern, malerisch in den Polstern liegende Stutzer mit Kneifern in den Augen, solide Bürgerfamilien mit ihrem gesammten Kindersegen, gleich Häringen zusammengeschichtete Provinzialen in altfränkischen Röcken und thurmhohen Cylinderhüten, pensionirte Officiere nebst gnädigen Frauen und Töchtern, angeheiterte Studenten, gravitätische Reichstagsmitglieder – eine demokratischere Verbrüderung aller Stände zur einträchtigen Verfolgung eines und desselben Zieles läßt sich nicht wohl denken, ebensowenig ein härterer Frohntag für das arme Pferdegeschlecht.

In all dem Gewimmel aber ward noch eifrig gehämmert und genagelt, getüncht und bekleidet an den Dutzenden von Tribünen, die sich vom Brandenburger bis zum Halle’schen Thore aneinanderreihen und nach den Hauptsiegen und Oertlichkeiten im letzten Kriege getauft sind: Tribüne Weißenburg, Mont Valérien, Sedan, Wörth und so fort, – kleine und große, theuere und billige, je nach Lage und Umfang, mit und ohne Erfrischungsstätten, bedachte und unbedachte – und auch die Parterre- und Ladenfenster richten sich allmählich zu Schaugalerien her, zu fünf, drei und zwei Thaler pro Stuhl. Will man jedoch einen annähernden Begriff erhalten von dem Fremdenzuflusse, der sich in unerschöpflicher Fülle noch fort und fort über Berlin ergießt, als käme die ganze Erde bei diesem zu Gaste gezogen, so muß man vor einem der großen Bahnhöfe Posto fassen. Etwa am Anhalter auf dem Askanischen Platze, zwischen den Denksäulen für die ersten großen Waffenthaten bei Weißenburg, Wörth und Spicheren, an der für die Berliner Schuljugend aufgebauten Riesentribüne, welche den Bewohnern der angrenzenden Häuser menschenfreundlich jede Aussicht auf das bevorstehende Schauspiel raubt. Unablässig pfeifen die Locomotiven, denn die regelmäßigen Züge zur Beförderung der zureisenden Massen reichen natürlich nicht hin; unablässig rollen die Droschken hinein uns heraus, keuchen die Dienstmänner ab und zu, kommen Frauen und Männer angeschwankt, die fast zusammenbrechen unter der Last ihrer Koffer und Nachtsäcke, und hülflos ausblicken nach einem Gefährt oder einem dienstbaren Geiste, von denen sich in Viertelstundenweite keine Spur erspähen läßt, brausen Hofequipagen heran mit Vorreitern und Jägern, welche Kaiser Wilhelm’s fürstliche Gäste in Empfang nehmen, marschiren Soldatenabtheilungen auf, die zum morgenden Einzuge commandirt sind, umarmen sich preußische, bairische, württembergische Officiere, welche sich seit Versailles und Paris, seit Le Mans und Belfort nicht wieder gesehen haben – welch Bild von unsäglichem Wechsel und Reize und trotz seiner Feierlichkeit wie voll der köstlichsten komischen Intermezzos! Unser künstlerischer Freund geräth ganz in Ekstase: der schöne Platz mit seinem monumentalen Festschmuck, das nicht versiechende Menschenmeer, die eleganten Carossen mit den edlen Gespannen, die mannigfaltigen Uniformen, dazu gelegentlich auf den die Straße entlang ziehenden Schienen der Verbindungsbahn ein schnaubender Lastzug mit endlosem Wagenconvoi, welcher auf Minuten alle Verbindung aufhebt zwischen Diesseits und Jenseits – wie unvergleichlich pittoresk!

„Daß ich nicht Stunden lang hier weilen und Hefte von Skizzen für die Gartenlaube voll zeichnen kann!“ klagte der Maler, als er einen Kunstgenossen erblickte, welcher sich’s im Schatten einer Thorfahrt auf seinem Feldstuhl bequem gemacht hatte und tapfer darauf los bleistiftelte. Allein die Pflicht duldete keine Rast; wir mußten noch etwas weiter Straßenbummler spielen, noch einmal vor Allem die Promenade unter den Linden durchschreiten, um die Hochfluth des Volksgewoges zu beobachten, das sich hier concentrirte, die Tribünen in Augenschein nehmen, welche mittlerweile ihre schmucke bunte Bekleidung angelegt hatten, die Bilder mit ihren Mottos und Denksprüchen betrachten, die zwischen den zehn Ehrensäulen nun vollzählig aufgehangen waren und in vortrefflichen Compositionen der ersten Berliner Maler Zweck und Gang des Krieges vergegenwärtigten, den Mastenwald mit den Flaggen aller Nationen beschauen, die von den neben der Schloßbrücke ankernden großen Kähnen herabflatterten, uns noch einmal weiden an der jetzt von ihrem Gerüste befreite Germania vor dem Mittelportale des Schlosses und unsere Wander- und Festrüstungsstudien mit einer Excursion nach dem fernen Dönhofsplatze beschließen, wo bereits die große Tanzbude und die vielen kleinen Erfrischungszelte für die Mannschaften aufgeschlagen wurden und sich schon des zahlreichsten, wenn auch noch ungelabten Zuspruchs erfreuten.

Dies Alles haben wir redlich vollbracht, und der Leser wird uns auf’s Wort glauben, daß die Ruhe wohl verdient war, der wir uns endlich in dem von bunten Lampen erhellten Vorhofe der weit bekannten Gratweil’schen[WS 1] Bierhalle dicht unter den Fenstern des jüngst in der Gartenlaube dargestellten Künstlerclublocales hingaben.

– – Und nun war er da, der lang erharrte große Tag, der größte, welchen Berlin jemals gesehen, und wie wir einen größern zu erleben weder hoffen noch begehren dürfen. Können wir doch nur wünschen, daß er den Janustempel des deutschen Reiches für alle Zeiten geschlossen haben möge! Den Tag zu schildern, liegt unserer Absicht und dem unserer Skizze vorgezeichneten Programm fern. Auch scheuen wir uns nicht zu bekennen, daß unsere Feder zu schwach ist, seinem überquellenden Reichthum gerecht zu werden. Was sich in ihm in der schmalen Spanne weniger Stunden zusammengedrängt hat, – des Inhalts war es übergenug für Monate, genug zum Erinnerungsschatze für das Leben. Es war ein Fest- und Weihetag der gesammten deutschen Nation, von welchem die Geschichte den spätesten Geschlechtern erzählen wird, ein Tag höchster Ehre, ungetrübter Begeisterung und reiner Freude, vor dessen heiterem Glanze selbst der Schmerz, die thränenschwere Ernte des großen Kampfes, momentan zurückwich.

Unserm Reporterthum getreu, überall zu sehen und zu hören und uns nach jeder Ausstrahlung hin in die wogende Strömung zu mischen, hatten wir einen uns zu Ehren der Gartenlaube gebotenen Tribünensitz verschmäht und wollten zunächst im Menschenspaliere der Königgrätzer Straße uns einen Stehplatz erkämpfen, da lockte uns ein improvisirtes Podium unmittelbar an der Ecke des Leipziger Platzes in die nächste Nachbarschaft des erwähnten Trophäenberges mit den Straßburg und Metz versinnlichenden, doch etwas allzu reichlich ausgefallenen Figuren. Die Estrade war nichts als eine Planke auf einigen stützenden Böcken, auf die ein Consortium Berliner Packträger eine Reihe von Stühlen gestellt hatte; aber die Lage dieser Schaubühne erschien uns als eine so günstige, daß wir uns nicht besannen, für’s Erste mindestens darauf Fuß zu fassen neben einer interessant zusammengewürfelten Gesellschaft von dicken Pächterfrauen und ausgetragenen Berliner Kindern, die selbstverständlich in „schnoddrigen Redensarten“ und drastischen Witzen Erkleckliches leisteten und damit die Zeit des Wartens nach Möglichkeit zu kürzen suchten.

Wir haben die Wahl unseres Standortes nicht zu bereuen gehabt. Der größere Theil der Berliner Gewerke mit ihren uralten und funkelnagelneuen Panieren und dem tollsten Mixtum Compositum von Musikbanden, zu denen sämmtliche Flecken und Dörfer auf Meilen in der Runde ihr Contingent gestellt haben mochten und deren Repertoire sich doch regelmäßig zwischen dem „Pariser Einzugsmarsche“, der „Wacht am Rhein“ und „Fein’s Liebchen mein unter’m Rebendach“ ableierte, zog an uns vorüber;

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Grattweil’schen
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_504.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)