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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


das war eine tiefe Bißwunde, die der Verhaftete an dem mittleren Finger der rechten Hand hatte. Er behauptete zwar beim ersten Verhör und blieb sich auch später in seiner Aussage darin gleich, daß ihn ein Hund gebissen habe, indessen die Aerzte, die als Sachverständige herbeigezogen wurden, behaupteten, daß die Wunden von einem menschlichen Biß herrührten.

Weiter erklärte der Verhaftete, Matteo de Gustiani zu heißen und ein Römer zu sein. Sein Vaterland habe er aber wegen politischer Vergehen schon seit Jahren verlassen müssen. Sein Paß, der mit seinem Aeußern ziemlich übereinstimmte und der von dem englischen Gesandten in Bern visirt war, lautete auch auf diesen Namen. Zudem sprach er das Italienische mit dem römischen Accent geläufig, wie Jemand seine Muttersprache redet. Trotzdem waren die Verdachtsgründe gegen den Verhafteten, der mit dem Coupémörder identisch sein sollte, so groß, daß der kaiserliche Procurator die Fortsetzung der Untersuchung beantragte, deren Ergebniß die Verweisung vor die Assisen des Niederrheins war.

Betroffen sah ich in das blasse, durchfurchte, mit einem ungewöhnlich starken grauen Bart umrahmte Gesicht des Angeklagten, dessen dunkle Augen giftige Drohblicke nach dem kaiserlichen Gerichtsschreiber schossen, welcher mit jenem Pathos, das den französischen Gerichtspersonen bei den officiellen Reden eigen ist, die Anklageacte gegen Matteo de Gustiani verlas.

Matteo de Gustiani! Ich hatte den Namen nie gehört, nie eine Person dieses Namens gekannt, und doch waren mir die Züge des Mannes, der dort auf der Anklagebank zwischen den beiden Gensd’armen saß, nicht fremd. Aber wo hatte ich ihn gesehen? Ich zerbrach mir vergebens den Kopf, durchstöberte jeden Winkel meines Gedächtnisses und konnte mich doch nicht besinnen, wo ich mit dem Menschen zusammengetroffen. Das Zeugenverhör begann und als Hauptentlastungszeuge erschien jener englische Arzt. Der Angeklagte erklärte mit voller Entschiedenheit, den Zeugen nie gesehen zu haben, wodurch er denselben so verblüffte, daß dieser in der That schwankend wurde, zumal da der Ueberfall bei Nacht stattgefunden und das Coupé nachlässiger Weise nicht erleuchtet gewesen, so daß der Arzt die Gestalt des Raubmörders nur bei dem Mondenschein, der in den Waggon fiel, gesehen hatte. Da stellte der Generalprocurator bei dem Präsidenten des Gerichtshofes den Antrag, dem Angeklagten einen Todtschläger zu geben und diesen gegen den Zeugen erheben zu lassen.

Ueber das Gesicht des Matteo de Gustiani zuckte es, ein Schauer schüttelte seine Gestalt. Man konnte deutlich wahrnehmen, wie peinlich ihm der Antrag des Generalprocurators war. Der Todtschläger wurde gebracht, der Angeklagte mußte ihn ergreifen und die Geberde des Zuschlagens gegen den Zeugen machen.

„Ja, ja … er ist es … ich erkenne ihn … ich kann es mit tausend Eiden beschwören,“ rief der Arzt im Tone der tiefsten Ueberzeugung, während meinen Lippen unwillkürlich der Ruf „Procop Makovetzky!“ entfloh. Procop Makovetzky! So hatte er vor uns gestanden, mit dem Beil in der Hand in jener Decembernacht, in der Rauchwaarenhalle zu Leipzig. „Procop Makovetzky!“ wiederholte ich noch einmal, die Scene um mich vergessend. Ich glaube nicht, daß Jemand Anders als der Angeklagte, in dessen Nähe ich stand, den Namen gehört oder meinem Ausruf eine Bedeutung beigelegt hat; aber die Wirkung, die dieser Name auf den Angeklagten hervorbrachte, war unbeschreiblich.

„Ja, ich bin der Mörder … ich habe auch die Anderen ermordet … ich will Alles gestehen.“

Die Sitzung wurde sodann auf Antrag des Procurators aufgehoben und der Angeklagte in’s Untersuchungsgefängniß zurückgeführt. Eine neue Untersuchung über die früheren Eisenbahnmorde begann.

Vielleicht ein paar Monate später erhielt ich aus Straßburg den „Courier des Niederrheins“ zugeschickt. Das Blatt enthielt einen Artikel über den Coupémörder. Die letzten Sätze desselben lauteten ungefähr so:

„Procop Makovetzky hatte ein so unumwundenes Geständniß abgelegt, daß für die Vertheidigung auch nicht der geringste Spielraum mehr gelassen war. Er hat auch gestanden, daß der auf den Namen Matteo de Gustiani lautende Paß, den er führte, ein gestohlener war, daß er die beiden Raubmorde an der alten russischen Gräfin und dem Kaufmann aus Lyon verübt und daß er früher zur Zeit der ungarischen Revolution Spion im Solde Haynau’s, des berüchtigten Schlächters von Brescia, gewesen sei. Die Geschworenen erklärten ihn einstimmig für schuldig und verwarfen die Zulassung mildernder Umstände. Heute früh wurde er im Hofraume des Gefängnisses durch die Guillotine vom Leben zum Tode gebracht.“

So endete Procop Makovetzky, der Spion und Gatte der stummen Signora.




Eine Binnenseestudie aus den deutschen Alpen.


„Kein Mensch kann das uns geben,
Die Minne selber nicht,
Das sonnenwarme Leben,
Das hier zur Seele spricht!

Laß unsern Kahn nur treiben!
Allum ist’s fein und schön;
Hier ist vom Weltenbauherrn
Ein Meisterstück geschehn.

Hier prangen Gottes Wunder
In still beredter Pracht;
Fahr’ ab, verfluchter Plunder,
Der elend mich gemacht!“

In solch drastischen Worten schildert der „Trompeter von Säckingen“, der vielumhergetriebene, der geheimnißkundige Prophet der ewigen Schönheitsoffenbarung, wie sie in den Wundern der Natur niedergelegt ist, – so schildert Joseph Victor Scheffel in seiner „Frau Aventiure“ den Eindruck, den der Chiemsee in Oberbaiern, welchem die nachfolgende Studie gewidmet ist, auf sein begeistertes Gemüth gemacht hat.

Und in der That, er hat tief und wahr empfunden: wer einmal in den Zauberbann der Nixen des Chiemsees getreten ist, der bleibt von ihm umsponnen Zeit seines Lebens. Als ich, verlockt durch Ludwig Steub’s, des liebenswürdigsten Ethnographen, verführerische Schilderung von Frauenchiemsee, wie sie in seinem prächtigen Werke „Das bairische Hochland“ zu finden ist, im Mai 1865 das gepriesene Eiland zum ersten Male betrat, in der Absicht, blos zwei oder drei Tage dort zu weilen, habe ich den Mond dort dreizehnmal hintereinander wachsen und schwinden gesehen. Erst der Krieg von 1866 vertrieb mich von dort. Es war damals für einen Preußen in Baiern nicht gut wohnen, selbst nicht einmal in jenem stillsten aller Erdenwinkel. Das ist freilich jetzt ganz anders geworden. Jetzt haben sich die aus dem Felde zurückgekehrten oberbairischen Soldaten das Wort gegeben, Jeden niederzuschlagen, der über die Preußen schimpft, – und in diesem Punkte ist bekanntlich weder mit den Ober- noch Niederbaiern zu spaßen. Ueber ein Jahr hintereinander also habe ich auf der Fraueninsel im Chiemsee zugebracht, habe das Aufblühen des Frühlings, das Reifen des Sommers, die Ernte im Herbst und die todesstarre Einsamkeit des Winters dort mit durchgelebt.

Einen Winter in Frauenchiemsee, einsam und allein, – die Künstler alle, mit denen ich die sonnendurchgoldeten Tage des Sommers und Herbstes auf dem traulichen Eilande verlebt hatte, sie wollten mir nicht glauben, oder sprachen es mehr oder weniger unverblümt aus, daß sie mich für einen Narren und Sonderling hielten.

Aber sie wußten nicht, was sie sagten. Ein Sonnenaufgang oder Untergang allein, der die beschneite Insel mit ihrem Kloster und ihren Fischerhütten in pfirsichblüthnes Licht taucht, oder eine Vollmondnacht, wenn sie in vollem Sternenglanze und reiner Winterklarheit über die Riesenhäupter der Alpen, den gewaltigen See und das stille Inselchen herniederblaut, – das sind Erinnerungen für’s Leben. Oder wenn die Frostnebel kommen und sich als Reif ansetzen, so daß die viele Hundert Fuß langen Fischernetze, wenn sie zum Trocknen aufgehängt sind, in jeder ihrer Maschen wie aus Silber gewebt erscheinen, und die gewaltigen Lindenstämme, die die Insel zieren, wie riesige weiße Korallen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 500. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_500.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)