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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Feuern die Obdachlosen in ihre Mäntel gehüllt. Zum Tode erschöpft von ihrer blutigen Arbeit gleitet eine Dame mit feinen Zügen von einem Verwundeten zum andern; sie will nicht rasten, bis Alle verbunden und der kommende Tag die Leidenden nach den deutschen Lazarethen entführt. Mit festem Willen besiegt sie jede Anwandlung von Schwäche und erfüllt heldenmüthig ihre Pflicht. Durch die thürartigen Ausschnitte der Baracken sieht man die lodernden Feuer der Kaffeeküche und die sie umgebenden Gruppen, Soldaten, Leichtverwundete und Pflegerinnen der untern Stände. Sie haben das Elend um sich her vergessen; frivole Redensarten beleidigen das Ohr, rohes Gelächter erschallt, und erschrocken wendet sich das Auge von Scenen, welche die Gemeinheit dieser fühllosen Naturen bekunden.

Je mehr die Nacht dem Morgen sich nähert, je kälter wird die Luft. Kaum können meine erstarrten Hände noch die Vorräthe halten. Wie im Nebel sehe ich das grelle Roth der Fackeln, die durcheinander eilenden dunkeln Gestalten, die ganze bewegte Scene, über welche der Mond sein silbernes Licht vom klaren Himmel herabgießt. Halb bewußtlos schreite ich über die am Boden Liegenden; ihre Bitte um eine warme Decke, einen Mantel, nur eine Handvoll Stroh, schlagen dumpf an mein Ohr; unter Wagen und Pferden hindurchkriechend, erreiche ich unser Quartier und sinke erschöpft auf das harte Lager.

Die überstandene Anstrengung hält mich auch den ganzen nächsten Tag auf dem Lager; ich bin krank. Aber ich muß gesund werden und zwar ohne Arzt; denn keiner von all’ den Gerufenen kommt. Die Einen sind bei den Verwundeten und die Anderen müssen ihre ärztliche Hülfe den Port- und Xeresweinen in der kleinen Stube des großen Johanniterdepôts angedeihen lassen. Wie gesagt, ich wurde trotzdem wieder gesund und begab mich sofort am zweiten Tage zur Nachtwache im Ruhr- und Typhuslazareth, dessen schrecklicher Dienst alle Nerven anspannte und einen kaum glaublichen Grad von Selbstüberwindung erforderte.

Den folgenden Tag, es war am 23. August, strömte der Regen unaufhaltsam nieder, die Straßen sind eine fortlaufende Kothlache, Stroh und Matratzen durchnäßt, auf denen die unausgesetzt ankommenden Verwundeten untergebracht werden sollen. Es sind meist Franzosen, oft schauderhaft verstümmelt.

Bei der feuchtkalten Witterung ist das Erneuern der Verbände an den Wunden unzulässig. Nur nach Speise und Trank verlangen die Eintreffenden und im Depôt sind nicht Hände genug, Alles zu liefern.

Einem schlanken jungen Mann ist die oberste Leitung desselben übertragen, eine Wittwe aus Köln hat die Aufsicht über die Vertheilung der Vorräthe und nennt sich mit Stolz „Directorin“. Die Stube, aus welcher fortwährend ungeheure Vorräthe gebracht und an die Hungernden vertheilt werden, war das Schlaf- und Wohnzimmer des frühern französischen Bahnwärters. Jetzt haben sich die Leute in den obern Theil des kleinen Häuschens zurückgezogen, den untern, Küche und Wohnstube, den Johannitern überlassen. Noch stehen die zwei breiten Betten in dem Raum, jetzt die Behältern aller möglichen Sachen. Zuckerhüte, Citronen, Cigarrenkisten, Schweizerkäse, Cognacflaschen, Kasten etc. füllen in wirrem Durcheinander das eine; auf dem Rande des andern sitzen vor einer großen Kiste Tag und Nacht zwei Soldaten und schneiden in dieselbe Stücke Brod von dem am Boden aufgethürmten Vorrath ab. Fünfhundert Brode sind so an einem Tage verschnitten und auf dem am Fenster stehenden Tisch mit Butter bestrichen, mit Schinken belegt worden, und doch reichte dies nicht aus, Alle zu sättigen. Neben der Thür steht die Limonade in großen Kübeln, den Raum zwischen den Betten nimmt ein mit einer Mischung von Rothwein, Zucker und Wasser gefülltes Faß ein, und jede Ecke ist mit Körben voll Eier, Schinken, Buttertöpfen und Weinflaschen vollgepfropft.

„Ach, Gott sei Dank, hier giebt’s was zu essen!“ mit diesem Ausruf stürzt eine Schaar junger Männer in das enge Gemach.

„Ja wohl, aber nur für Verwundete,“ tritt ihnen die Wittwe mit Directormiene entgegen. „Drüben im Hauptdepôt konnen Sie vielleicht Etwas bekommen.“

„Da waren wir schon und man hat uns hierher gewiesen,“ entgegnet einer der rothbekreuzten Jünglinge.

„Ja, sehen Sie, meine Herren,“ beginnt die Wittwe mit Würde, „ich bin hier als Directorin angestellt und darf –“

„Ach was, hier, essen Sie nur,“ falle ich der würdigen Dame in die Rede und theile schnell aus, was eben vorhanden. „Ein Glas Rothwein sollen Sie auch haben unter der Bedingung, daß einige von ihnen sich des Brod- und Schinkenschneidens annehmen, unsere Mädchen haben bereits die Hände voll Blasen und unsere soldatische Hülfe ist eben abgerufen.“

Ein kurzer, dicker Sohn Hamburgs meldet sich zum Schinken; da sein Vater Hôtelbesitzer sei, verstehe er das Tranchiren. Ein junger Oekonom aus der Nähe der Hansestadt setzt sich an den Brodkasten, ein Kaufmannssohn folgt ihm und unter ihren starken Händen füllen die Stücke rasch den Behälter.

„Das hätten wir Hamburger Krankenträger nicht erwartet, zu solcher Arbeit commandirt zu werden,“ lacht der junge Kaufmann und besieht seine zarte Hand, deren innere Fläche dunkel geröthet ist.

„Auch nicht, daß wir einmal gründlich das Hungern lernen müßten,“ entgegnet sein Nebenmann; „aber sieh nur dort, wie schrecklich!“ unterbricht er sich und deutet nach der Thür.

Langsam schreitet ein Verwundeter herein mit schlotternden Knieen, gänzlich entkräftet, das Haupt mit blutigen Tüchern umwunden, das Antlitz gedunsen und furchtbar entstellt. Noch hängt auf der Backe das rechte Auge, das eine Kugel ihm herausgerissen, und gewährt einen scheußlichen Anblick. Kaum verständlich bittet der arme Hannoveraner um etwas Nahrung. Brod vermag sein verschwollener Mund nicht hinunter zu bringen, ein rohes Ei und etwas Suppe ist das Einzige, was er genießen kann. Glücklicherweise ist dieses schnell herbeigebracht, denn seit das kühle Wetter eingetreten, dampft der Suppenkessel beständig über dem Feuer.

„Haben Sie nicht etwas warme Nahrung für zwei kleine Ausreißer?“ fragt herzutretend ein Unterofficier. „Die armen Kerle sind halbverhungert.“

Ich fülle einen herrenlosen Feldkessel mit Suppe und folge in das kleine Bahnhofgebäude. Auf der Bank im Hintergrunde des frühern Gepäckzimmers – ich glaube jetzt Etappenbureaus – sitzen zwei Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren, zerrissen, schmutzig, hohläugig, mit halb trotzigen, halb weinerlichen Gesichtern. Es sind die kleinen „Ausreißer“, Knaben aus guter Familie, die heimlich das elterliche Haus verlassen hatten, um mit den Soldaten in den Krieg zu ziehen. In der Nähe des Schlachtfeldes von Gravelotte fand man die zu früh flügge gewordenen Vögel, die offenbar jetzt froh waren, wieder in das elterliche Nest zurückgebracht zu werden. Neben diesen verlorenen Söhnen sitzt ein Mann in blauer Blouse, kothbedeckt, zerzaust, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Beulen, Schmutz und Blutflecken bedeckt; die blutunterlaufenen Augen blicken scheu umher und haften zuletzt begehrlich auf der dampfenden Suppe. Der augenscheinlich vom Hunger gequälte Mensch jammert mich; eben will ich forteilen, auch ihm etwas Speise zu bringen, als der hereintretende Officier mit den Worten auf ihn deutet:

„Also dies ist der Leichenräuber?“

„Zu Befehl, Herr Hauptmann, man hat einen Sack unter seinem Marketenderwagen gefunden, voll von Werthsachen, Uhren, Ketten, Ringe, in deren zwei noch die abgeschnittenen Finger steckten. Sie sehen, unsere Leute haben ihn gerade nicht sanft bei der Entdeckung behandelt.“

Der Officier blickte finster im das von Mißhandlungen entstellte Gesicht, und scheu rücken die Knaben von dem Elenden zur Seite, der auf solche Weise den deutschen Namen schändete. –

Auf dem Perron werden die mit Speise und Trank erquickten Verwundeten in die Waggons geladen. Freiwillige Krankenträger aus allen Ständen, aus allen Theilen unseres deutschen Vaterlandes betten ihre stöhnende Last in die mit Stroh belegten Packwagen. Wer gehen, ja wer nur mühsam an Stöcken fortkriechen kann, schleppt sich vom Verbandplatz herauf. Ein schrecklicher Zug von Jammer und Elend, diese bleichen hohläugigen Gestalten in den bunten, jetzt zerrissenen und schmutzbedeckten französischen Uniformen. Aber so viel ihrer auch eingeladen werden, leer wird es nicht auf dem Platze drunten, immer Neue werden herbeigefahren. Schon strecken sich wieder hundert Hände nach Nahrung aus, und die angestrengteste Thätigkeit weiß kaum sie alle zu füllen. Die „Directorin“ ist knurrig, denn die Hungernden stürmen förmlich das kleine Häuschen, und die Krankenträger und Pflegerinnen schleppen solche Massen von Vorräthen heraus, daß der Verdacht entsteht, ein Theil derselben verkaufe das Brod an die Marketender oder verschenke Cigarren, Eier etc. an ihre besonderen Freunde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_490.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)