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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


auf“. Die Schilderung des achtzehnjährigen Mädchens, die Goethe nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren so meisterhaft entworfen, darf hier doch wohl nicht fehlen; um so weniger, da wir außer derselben kein anderes authentisches, aus jener Zeit stammendes Portrait von Friederike besitzen.

„Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettsten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder, und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als ob sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte. Der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“

Es war – berichtet Albert Grün im Vorwort zu seiner „Friederike“ – es war ein Stern aufgegangen! Zwar wollte es mit dem Spielen und Singen am Clavier, wozu der Vater sie nöthigte, nicht recht flecken; beim Abendessen aber ward man vertraulich, und als es nachher zu einem Spaziergang im Mondenscheine kam, bei dem Goethe trotz seines komischen Candidaten-Habits Friederike führen durfte, da öffneten sich zwei Seelen: die eine zum erstenmal, die andere jedenfalls tiefer, als je.

„Sie wurde,“ erzählt Goethe, „zuletzt immer redseliger und ich immer stiller. Es hörte sich ihr gar so gut zu; und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Gesichtsbildung aber, sowie die übrige Welt, in Dämmerung schwebte, so war es mir, als wenn ich in ihr Herz sähe, das ich höchst rein finden mußte, da es sich in so unbefangener Geschwätzigkeit vor mir eröffnete.“

Die Nacht wurde halb mit Weyland verschwatzt, halb selig verträumt. Am Morgen aber brachte ihn die verwünschte Garderobe, in der er sich unsäglich abgeschmackt vorkam, schier zur Verzweiflung. Er hatte einen unschuldigen Scherz treiben wollen; über Nacht war der Ernst gekommen: er schämte sich vor Friederike! Als Weyland ihn gar auslachte, lief er in leidenschaftlichem Unmuth davon, ließ in der Herberge sein Pferd satteln und eilte im Galopp gen Straßburg. Bis zur Manzenau kam er; da fuhr ihm ein toller Plan durch den Kopf.

George, der Wirthssohn von Drusenheim, hatte ja ungefähr seine Gestalt. Rasch lenkte er um, lieh sich die Sonntagskleider des Burschen, wofür er sein Pferd zurückließ, schwärzte sich die Augenbrauen mit einem angebrannten Korkstöpsel und übernahm die Ablieferung des Kindtaufkuchens, den George gerade in den Pfarrhof von Sessenheim zu bringen hatte. So nahm er zu Fuß den Wiesenpfad am Bache hin; Weyland und die Mädchen, die jenseits des Wassers an ihm vorüber spazierten, täuschte er wirklich, auch den Pfarrer und das Gesinde in Sessenheim. Frau Brion erkannte ihn zuerst, ging auf den Scherz ein und schickte ihn bis zum Essen in die Wiese, um dann Alle zu überraschen. Da fand er denn jenes herrliche Lieblingsplätzchen des Mädchens, einen von Bäumen und Gesträuch überschatteten Hügel, auf dessen Höhe über einem köstlichen Sitze die Inschrift stand „Friederikens Ruhe“. Dort saß er schwelgend in den vier himmelhellen Ausblicken und seinen holden Phantasien; dort fand und erkannte ihn zuerst die liebe Eignerin, dann die Schwester und Weyland, im Triumph wurde er in den Pfarrhof zurückgeführt und – war fortan darin zu Hause. Nach Tische wurde in der Laube „die neue Melusine“ improvisirt, die jetzt in „Wilhelm Meister’s Wanderjahren“ steht, und dann „mit dem Widerhaken im Herzen“ für diesmal Abschied genommen.

Der eben erwähnte, „Friederikens Ruhe“ genannte Hügel, niedrig, ganz unbedeutend, nur wenige Minuten von Sessenheim entfernt, von unseren Dorfbewohnern öwersch Berri (oberste Berg) genannt, ist wahrscheinlich ein celtischer oder römischer Grabeshügel – jedenfalls ist derselbe von Menschenhand aufgeworfen worden und viel flacher heute, als er vordem gewesen sein mag, da er schon längst als Feldstück bebaut und angepflanzt wird; darum kann man auch von demselben das Straßburger Münster nicht mehr sehen, wie in früherer Zeit. Alte Personen erinnern sich noch, daß auf demselben einige Bäume gestanden, von einem Wäldchen aber, das ihn umgeben, haben sie nie etwas gehört. Ob die Tafel mit der Inschrift „Friederikens Ruhe“ wirklich bereits existirte, als Goethe bei seinem ersten Besuche in Sessenheim dahin gekommen, habe ich alle Ursache zu bezweifeln, ja ich wage es beinahe mit Bestimmtheit zu verneinen. Friederike mag hie und da, allein oder in Gesellschaft, dieses freundliche Schattenplätzchen besucht und gerne manche Stunde dort zubracht haben – dies bin ich weit entfernt in Abrede stellen zu wollen; daß sie aber den Hügel nach ihrem Namen genannt oder gar noch die Inschrift „Friederikens Ruhe“ daselbst angebracht, gehört gewiß eher in das Reich der Dichtung, als der Wahrheit. Viel wahrscheinlicher scheint mir die Annahme, Goethe habe bei seinem Besuche gerne an dieser Stelle sich aufgehalten und, seiner Geliebten zu Ehren, ihr den in Rede stehenden Namen beigelegt, eine Annahme, die durch die Aussage von Sophie Brion so ziemlich auch bestätigt wird. Der Name Friederikens Ruhe war ihr unbekannt, aber sie erinnerte sich, daß eines Tages eine vom Dorfschreiner verfertigte Tafel daselbst angebracht wurde, auf welcher die Namen vieler Freunde verzeichnet standen; zu unterst soll Goethe selbst seinen Namen unter folgende Verse geschrieben haben:

„Dem Himmel wachs’ entgegen
Der Baum, der Erde Stolz.
Ihr Wetter, Stürm’ und Regen,
Verschont das heil’ge Holz!
Und soll ein Name verderben,
So nehmt die obern in Acht:
Es mag der Dichter sterben,
Der diesen Reim gemacht.“

Vor zwölf Jahren hatte Albert Grün den Ertrag einiger Leseabende in Straßburg, in welchen er sein Schauspiel „Friederike“ auszugsweise vortrug, uneigennützig dazu bestimmt, diesen Hügel anzukaufen und so wieder herrichten zu lassen, wie er vor hundert Jahren war. Allein der jetzige Besitzer mochte denselben nicht gerne abtreten, und überdies standen damals dem Vorhaben noch andere Schwierigkeiten im Wege. Wie ich höre, wird aber Grün jetzt einen neuen Versuch machen, den Hügel käuflich an sich zu bringen, und sein längst gehegter Wunsch dürfte wohl schon in kurzer Frist erfüllt und verwirklicht sein.

Goethe ging, aber er kam bald, er kam oftmals wieder. Denn ob er gleich durch eifriges Studiren seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben und „die angehende Leidenschaft“ niederzuschlagen sich bemühte, „Straßburg kam ihm leer,“ der Aufenthalt in der Stadt unerträglich vor. Schon im November „putzte er sich also sauber heraus,“ und ritt dem Ziele seiner Sehnsucht zu. Es war schon spät, an einem Samstag Abend, als er ankam. Unangemeldet wohl trat er in den Pfarrhof ein, aber darum doch nicht unerwartet; denn zu seiner großen Verwunderung hörte er Friederiken der Schwester in’s Ohr sagen: „Hab’ ich’s nicht gesagt – da ist er.“ Wie ein alter Bekannter wurde er begrüßt und aufgenommen. Bei einem Spaziergang, den er am folgenden Morgen mit der Geliebten machte, wurde gemeinsam der Plan entworfen, wie die zu erwartenden Gäste, vor und nach Tische, unterhalten werden sollten; und Goethe hatte Gelegenheit die Vorzüge kennen zu lernen, „welche sie auf’s Freiste vor ihm entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten. Die Anmuth ihres Betragens schien mit der beblümten Erde, und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern.“ Nachher ging’s in die Kirche, wo er „an ihrer Seite eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.“[1] Indem er schied, „nährte er die Hoffnung, sie bald auf längere Zeit wiederzusehen.“

Die Erfüllung seines Wunsches ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nachher lud ihn Friederike „zu einem Feste ein, wozu auch überrheinische Freunde kommen würden; er sollte sich auf längere Zeit einrichten.“ Unverweilt „packte er einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence und in wenig Stunden befand er sich in ihrer Nähe.“ Er traf große und lustige Gesellschaft und war grenzenlos glücklich an Friederikens Seite. Sie erschien ihm lieblicher als je. Was Wunder daher, wenn er „allen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_468.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Der Kirchenstuhl für die Sessenheimer Pfarrfamilie enthält vier Plätze und ist, auf etwa Meterhöhe, durch einen Verschlag in zwei Hälften getheilt. Goethe saß also wirklich, während des Gottesdienstes, an seines Mädchens Seite.