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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Verkommen und vergessen.
Literarische Erinnerung von F. Brunold.


Es war im Sommer des Jahres 1860. Ein dreiundfünfzigjähriger Mann kam aus dem Hause der Französischen Straße Nr. 52 zu Berlin und ging, zur meist menschenleeren Behrenstraße einbiegend, hinter dem Opernhause fort, über die Schloßbrücke entlang, wo er einen Blick zur genialen Schöpfung Drake’s auswarf – dem Museum zu. Seine Kleidung, wenn auch der Sauberkeit nicht ganz entbehrend, war abgetragen, während der Hut namentlich eine lange Dienstzeit verrieth. Sein Blick hatte etwas Scheues, wie denn auch sein Gang, trotz der sichtbaren Anstrengung sich gerad und fest zu halten, nicht frei von leichtem Schwanken und von Schwäche war. Man sah es: der Mann, Menschen und Umgebung scheinbar nicht beachtend, wollte selber nicht gesehen sein; man fühlte: er fürchtete mehr, Bekannten zu begegnen und sie zu treffen, als daß sein Blick, sein Auge Menschenhaß oder wohl gar die Sucht Böses zu verbergen verrathen hätte. – Das Auge, wenn auch ernst, war mild und sanft. Es war nur eben etwas Anderes in seinem ganzen Wesen, das ihn die Menschen meiden und fliehen hieß, ohne daß man dies Etwas auf den ersten Blick erkannt hätte, wenn es nicht die bleiche, abgehärmte Wange, der trotz aller Anstrengung nicht zu verbergende matte Gang verrathen hätte. Kummer und Sorge, Noth und Entbehrung, Täuschung und Hoffnungslosigkeit hatten die Wange gebleicht, das Herz matter schlagen lassen und ihn selbst zu einem Menschenmeider gemacht. Er hoffte auf keine Hülfe mehr – er hatte mit sich und mit der Welt abgeschlossen. Er war ein Gelehrter, ein Dichter, wie dies schon sein, an Sophokles erinnernder Kopf, wie dies der leuchtende Blick bekundete, mit welchem er die Marmorgestalten der Schloßbrücke streifte, sein Schritt, mit dem er dem Museum zustrebte; wenn er auch nur in der Stadt und Polizeiliste als Particulier T. A. Burghardt verzeichnet stand.

Und als er nun die Rotunde durchschritt, als er eintrat in die der Kunst geweiheten Hallen, die schönen Gestalten einer versunkenen, vergangenen Welt ihm entgegen leuchteten – da belebte sich sein Auge, es bekam einen eigenen Glanz, sein Herz bebte, wie neu verjüngt; er fühlte sich in einer andern Welt! Wieder und immer wieder durchschreitet er die Hallen. Und während er sonst, in den Tagen vorher, nur während der Mittagsstunde hier zu verweilen pflegte, ist es ihm heut, am dreiundzwanzigsten August, als könne er nicht scheiden, als nehme die ihn umleuchtende Pracht und Herrlichkeit ihn immer wieder auf’s Neue gefangen.

Alle Müdigkeit, alle Schwäche ist dahin; er fühlt nichts von irdischer Beschwerde. Langsam durchmißt er die Gänge. – Die Stunden fliehen dahin, das Museum soll geschlossen werden. Der Galeriediener zögert, es ihm anzuzeigen. War der Schauende doch in letzterer Zeit Tag für Tag gekommen, ein Mann, der, man sah es, keinem Kinde etwas zu Leide zu thun vermochte, ein Verehrer, ein Kenner der Gebilde, dessen Liebe, dessen Enthusiasmus Theilnahme und Liebe für ihn selbst geweckt hatte.

Wie aus einem Traum erwachend, starrte der vor der Polyhymnia Stehende den Diener an. Ein flüchtiges Roth der Verlegenheit färbte seine Wange. Hatte er nur geträumt? Hatte nicht Hebe, die Göttin der Jugend, ihm die Schale gereicht, Cypria holdselig gelächelt, Cynthia den Jagdspeer gehoben, während Dionysos jauchzend sein Trinkhorn schwang?

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, warf noch einen langen Blick auf die Göttergestalten, wie als nehme er einen ewigen Abschied von ihnen – und schritt zum Saal hinaus. Draußen aber, auf der obersten Stufe der Treppe stehend, blickte er hinab auf das Menschengewühl, auf das rege Treiben des Lustgartens. Es war ein gar eigener Blick, mit dem er das Ganze betrachtete. „Du schöne Welt!“ hauchte der Mund, und eine Thräne lief, wohl ihm unbewußt, langsam von der Wange herab. Sinnend stieg er nieder und schritt den Linden zu. Er schien jede Scheu, daß er irgendwie mit Jemand in Berührung kommen könne, abgestreift zu haben. Ehe er jedoch das Brandenburger Thor erreichte, trat er zuvor noch in einen Bäckerladen und kaufte sich für wenige Pfennige ein Semmelbrödchen. Auf einer einsamen Bank im Thiergarten verzehrte er es. Es war sein Mittagbrod, sein Frühstück zugleich, das Einzige, das er seit vierundzwanzig Stunden in den Mund genommen, wie es auch in den Tagen vorher geschehen war.

Der Volkswitz sagt: „Man geht nach Hôtel Thiergarten,“ während der kalte, lieblose Verstand entgegnet: „Warum arbeitet er nicht? warum kommt er nicht und heischt von uns eine milde Gabe?“ Niemand aber bedenkt und will es wissen, daß dem Dichter, dem Schriftsteller, dem Gelehrten, dem Dramatiker, wenn er die gewöhnlichen Heerstraßen des Literatenthums nicht breit treten hilft, wenn er eigene Bahnen zu gehen beabsichtigt, die meisten Thüren, wo nicht alle, verschlossen sind. Er ist ein Sonderling, heißt es, ein Starrkopf, und seine Eigenheiten, oft aus Mangel an Nahrung und Kleidung hervorgerufen, werden für Sonderbarkeiten, für Mangel an Lebensart erklärt.

Als es dunkelte, trat er in sein armseliges, unscheinbares Zimmer ein. Ein Brief war nicht gekommen. Nichts war für ihn gebracht worden. Die letzte Hoffnung war damit zu Grabe getragen! Milde, ermattet, wie noch nie vordem, ließ er sich auf sein Lager nieder. Der Körper war gebrochen, aber der Geist arbeitete in nimmer rastender Ruhelosigkeit in ihm. Er mußte an Hölderlin denken, dem er ja so geistesverwandt in seinen Gedichten, Lebensanschauungen und Träumen war. Stand auch ihm zur Seite der Wahnsinn bereits, oder war es nur Ueberreizung, die seinen Körper schüttelte? –

Sein vergangenes Leben ging in einzelnen Bildern ihm vorüber. Die Erinnerung hatte sie wach gerufen!

Was giebt dem Dichter seine hohe Heiligkeit?
Er trägt den Dank in seiner Brust, ihm ist’s genug
Zum Glück, daß er der Hörer bunten Kreis beglückt
Und, arm er selbst, wie nie der König spendete
Die Freude, die des Lebens Räthsel schön verklärt.

So hatte er einst gesungen. Wo aber sind die Hörer, die seinen Gedichten, seinen Schöpfungen lauschen oder jemals gelauscht haben? Wo sind die Freunde, die einst ihm nahe standen und ihm eine so schöne Zukunft prophezeiten? Die Studiengenossen – und Sie? –

Es ist Alles anders gekommen, als er gedacht hat!

Dort liegen seine epischen Gedichte, ungedruckt, im Fach. Das Papier ist vergilbt! Dort liegt sein Trauerspiel „Johanna Gray“, als Manuscript gedruckt, worauf er so viele, viele Hoffnungen gesetzt. O wäre dies sein Stück zur Aufführung gekommen! Hätte es gefallen, die Menge entzückt, die Kritiker befriedigt, wie so anders, so ganz anders hätte sich sein Leben gestaltet! So aber hatte keine Bühne es zur Darstellung gebracht. Vor sechs Jahren hatte er das Werk als Manuscript auf eigene Kosten drucken lassen; er hatte vielen Directionen ein Exemplar gesendet, berühmten Historikern des Dramas sein Werk persönlich überreicht – Alles vergebens! Man hatte die Schönheiten der Dichtung anerkannt – aber nichts für dieselbe gethan. Verstaubt, vergessen lag es auf dem Boden des Antiquars. Es hatte nicht einmal die Druckkosten eingebracht, die er dafür ausgegeben!

Aber der innere Drang, trotz aller Täuschung, hatte ihn nicht ruhen lassen. Ein neues Stück „Die Glocke“ war begonnen worden. Und als es vollendet war und er Niemand hatte, dem er dies sein Geistesproduct mittheilen konnte, da hat er es, wie Jean Paul der Rollwenzel seine Werke vorlas – seiner Wirthin, der Frau Savade, mitgetheilt, die es überaus zum Weinen gefunden. Das Manuscript fehlte ihm jetzt. Er wußte sich nicht zu entsinnen, wo es geblieben. – Wer besitzt es jetzt? Oder wie, ist es gänzlich verloren, oder vernichtet worden? Doch dort liegt sein schönstes, sein bestes Werk, seine „Iphigenia in Aulis“, das er mit seinem Herzblut geschrieben und mit dem er in stolzen, kühnen Träumen sich Goethe ebenbürtig erachtete! Vor wenigen Tagen erst hatte er es vollendet. Wie bangte, wie zagte er um dies sein Schmerzenskind; wie hatte er noch gehofft für dasselbe zu wirken! Briefe waren geschrieben worden. Es sollte nicht sein! Keine Antwort war auf dieselben erfolgt. Die Gedanken verwirrten sich in ihm, ein todtenähnlicher Schlaf legte sich auf ihn!

Als die Wirthin am andern Morgen in sein Zimmer trat, fand sie ihn krank, überaus krank.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_456.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)