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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


No. 27.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Geheimniß des alten Kärner.
Von Emilo Mario Vacano.
1. Eine Sterbestunde.

Daniel Kärner war todt. Das war eine stadtbekannte Sache. Eine halbe Stunde nach seinem Tode wußte es ganz Görnitz, daß der alte Herr Kärner im Landhause draußen gestorben sei. Der alte Mann war seit Jahren fast nie mehr in Berührung gekommen mit der Stadt und ihren Bewohnern. Er lebte in seinem schloßartigen Hause, kurzweg das „Landhaus“ genannt (außerhalb der Lindenalleen, die sich um Görnitz herumzogen), wie ein Einsiedler. Er war nicht menschenscheu, aber er suchte Menschen nie auf. Seit vielen, vielen Jahren hatte er keinen Bekannten in Görnitz drinnen besucht, war er in keiner Gesellschaft gesehen worden. Wenn Jemand hinauskam, am Landhause vorüber, und trat in den dunklen, dichtbuschigen, halbwilden Garten, welcher dasselbe umgab, da war der alte Kärner ein freundlicher Hausherr und führte den Wanderer selber in dem Garten umher, wies ihm die Aussichten, und machte ihn auf manchen üppig wuchernden fremdländischen Baum aufmerksam. Der Garten war ganz im englischen Geschmacke angelegt, nur gar zu wild und ungebändigt wuchernd, als sollte er eine Dornhecke um das Landhaus ziehen. Und dennoch war Daniel Kärner kein Menschenfeind. Er war wohlthätig gegen Arme, und nie hatte Jemand von ihm ein rauhen Wort gehört, oder an ihm eine finstere, böse Miene gesehen.

Er lebte auf dem Landhause allein mit seiner Tochter Marie, einem hübschen, dunkeläugigen Mädchen von neunzehn Jahren. Seine Frau lag seit achtzehn Jahren begraben in Görnitz; sie war eine fremdschauende stille Person gewesen, die der alte Kärner aus Kärnthen mitgebracht hatte.

Das Landhaus lag einsam unter dichten Linden. Ueber dem schmalen Thale drüben lag ein Schloß Lobenstein, dessen Fenster im Sonnenuntergang mit den Fenstern des bürgerlichen Schlosses „Landhaus“ Kreuzblitze zu werfen pflegten.

Wie das Zügenglöcklein vom Görnitzer Hauptthurme erscholl, da fragte jede Hausfrau, die beim Abendbrode saß, jede Krämerin, die eben die Thürläden schließen wollte, und jede Magd am Röhrbrunnen, wem das gelten könne? … Es geschah dies an einem schönen Sommerabende. Und ehe noch die Dunkelheit die Nachtschattenblüthen zum durchdringenden Dufte öffnete, wußte das Städtchen, daß der alte einsam lebende reiche Daniel Kärner gestorben sei.

Und am andern Morgen wußten auch die Thürstufen, auf denen alte Gevatterinnen auszuruhen pflegen, ehe sie zur Frühmesse gelangen, die Küchenbänke, auf denen die Milchfrauen ihre Waaren absetzen, und die Kinderstuben der Bürgersfrauen, wo die intimste Kaffeefreundin ihren ersten Besuch abzustatten pflegt, daß der alte Kärner „schwer“ gestorben sei, „sehr schwer“, daß ihn der Teufel nicht sterben lassen wollte, weil noch ein Geheimniß das brechende Herz bedrückte. Und daß sich der Sterbende gegen den Tod gewehrt habe, eine ganze Stunde hindurch, um sichtlich ein Geheimniß loszuwerden; daß aber die gelähmte Zunge jeden Laut, und die zuckende, gelähmte Hand jeden Federzug versagt habe. Und daß der alte Mann gestorben sei, die Augen ängstlich rollend, die Lippen vergebens zu Worten zwingend, mit beschwertem Herzen gestorben, ein Geheimniß mit sich nehmend in sein stummes Grab. Ein Geheimniß, das nie gelöst werden sollte, und welches vielleicht seine arme Seele ruhelos herumtreiben würde in den verlassenen Zimmern seines Hauses.

So erzählten die Basen, die Milchweiber und die Freundinnen ihren Verwandten, ihren Kundschaften, ihren Gatten. Und die Männer besprachen es im Gasthause.

Und es war kein müßiges Gerede, es war etwas Wahres an der Sache. Der alte Kärner lag im Todeskampfe in seinem Bette. Zu seinen Häupten knieete seine Tochter Maria schluchzend und lächelnd. In ihre Hände schluchzend, und dann wieder tröstlich auflächelnd zu ihrem Vater. Zu seinen Füßen stand der Bürgermeister von Görnitz, Franz Volkner, einst ein Schulcamerad des Sterbenden, den dieser zum Vormund seines einzigen Kindes gemacht hatte. Es wollte eben Abend werden, und ein letzter blutrother Sonnenstreif fiel quer über die Stube, wie ein Flammenschwert, das sich vor dem Paradiese ausbreiten wollte. Und der strebende Greis richtete sich jäh auf. Er hatte noch vor fünf Minuten deutlich gesprochen und gebetet, aber jetzt schien er plötzlich zu fühlen, daß seine Zunge schwer geworden sei. Er stammelte Etwas, es klang wie: „Mein Gott im Himmel, ich kann nicht mehr sagen, das Ding – das Ding –!“ Er schien nach einem Worte zu suchen, das seinem wirr werdenden Gehirne schon für ewig entfallen war. „Das weiße – das, was dort ist …“ Und nun schien er wieder nach einem Orte zu suchen, dessen Bezeichnung der fassende Tod ihm schon aus der Seele gerissen hatte. „Marie!“ stöhnte er noch auf, „thu’ das, sonst hab’ ich nicht – nicht Ruh’ – so schlecht – die Welt – Geheimniß nicht mehr …“

Das waren die letzten verständlichen Worte des gurgelnden, mit dem Tode ringenden Greises.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_441.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2017)