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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


in Betrachtungen versenkt, oder mit Beten beschäftigt, da wird man von sehr ernstem Nachsinnen ergriffen, und man zaget und zittert selbst bei dem Bewußtsein seiner eigenen Unschuld; wo man endlich nirgends den Fuß hinsetzen kann, als auf den Rand eines Grabes, da fühlt man, wie wandelbar die Grundlage aller Güter dieses Lebens, alles Glückes und Dessen ist, was dem Menschen so wünschenswerth und so beneidenswerth erscheint.“

Ich war eben im Begriff, über den Contrast zwischen den finsteren Schilderungen des Karthäuserlebens und unserer offenbaren Tagesschwelgerei nachzudenken, als ich wahrzunehmen glaubte, daß der vor mir an der Wand hängende Spiegel sich mit meinem Bilde im Kreise herumdrehe. Da warf ich einen beschaulichen Blick in mich selbst; ich fand, daß ich einen kleinen Begleiter aus dem Speisesaal mitgebracht hatte, der mich despotisch beherrschte, und es schien mir, daß es gerathen sei, der Natur den Tribut zu zollen, indem ich die weinmüden Augen schlösse, den unsichern Füßen Ruhe gönnte, dem wallenden Blut und den aufgeregten Nerven durch den Schlaf Erholung bereitete.

In dieser befriedigenden Erkenntniß des Guten und Bessern ging ich, mit dem trunkbeglückenden Selbstgefühl potenzirter Gescheidtheit, ungemessenen Schrittes nach der lockenden Bettstelle, indem ich anfing, mich langsam zu entkleiden.

Aber welche Ueberraschung weckte meine matten Blicke! Ein als „Ding an sich“ schon herzerfreuender Gegenstand zeigte sich – erschrecken Sie nicht, meine Damen – auf dem Nachttischchen. Es war eine mit hellglänzendem Wein vollgefüllte Halbmaßbouteille, an ihrer einladenden Seite ein zierlich geschliffenes Trinkglas präsentirend. So etwas war mir in meinem Leben nie vorgekommen. Voll Verwunderung rief ich aus: „Heiliger Bruno, halt’ ein mit Deinem Segen!“ Dann aber konnte ich der Verlockung zum Schlaftrunk doch nicht widerstehen, faßte die Flasche um ihre schlanke Taille,

und goß in das niedliche Glas
das lieblich blinkende Naß.

Ach! – das war köstlicher Karthäuser-Nektar, wie ich heute noch keinen getrunken.

Da trat hinter einer Wolke der volle Mond hervor und blickte schalkhaft durch’s offene Fenster, als wäre er neugierig zu erspähen, welche Excesse es in so vorgerückter Nacht im Kloster noch gebe. Sein geborgter Glanz sympathisirte mit meiner romantischen Stimmung. Ich löschte mein Licht und ließ ihn das Zimmer beleuchten, sank aber schon nach kurzer Zeit, von Morpheus’ zarter Hand berührt, auf’s weiche Flaumenbett, und der Gestalten bildende Traumgott gaukelte im unruhigen Schlaf meiner aufgeregten Phantasie buntscheckige Bilder vor.

Eines derselben weckte mich. Der Morgen graute. Rasch erhob ich mich von meinem weichen Lager und trat lichten Kopfs und heiteren Gemüths unter das offene Fenster. Majestätisch stieg die aufgehende Sonne über die Berge. Ich war entzückt über die wonnevolle Verheißung eines herrlichen Tages. Ein sehnsuchtsvolles Gefühl trieb mich hinaus in Gottes freie Natur. Schnell kleidete ich mich vollends an, enteilte den stillen Klostermauern durch die hohe offene Hinterpforte und bestieg durch das weglose Gehölz die Spitze der Anhöhe, an die das Gebäude sich anlehnte. Hier athmete ich wohlthuende frische Morgenluft und ergötzte mich an der viele Meilen weit vor mir ausgebreiteten Fernsicht, in deren Hintergrund mein spähendes Auge in der langen Kette himmelansteigender Alpen herumschweifte. Meiner innigen Betrachtung der großartigen Natur entzog mich nur der Doppelschlag der Klosteruhr, welche die fünfte Morgenstunde verkündete; das Geläute der Kirchenglocke tönte feierlich zu mir herauf und rief die Mönche zur Hora.

Es war heute Sonntag, dessen Feier um sechs Uhr mit einem Frühamte begann. Mit der Begierde, in meinem Inspectionsgeschäft ja nichts zu versäumen, wand ich mich so schnell als möglich durch das Gehölz hinab und trat andachtbereit in das Schiff der kleinen dunkeln Capelle, wo ich mich allein befand. Noch dauerte im vordern Chor die Frühmette, von nur vier Karthäusern gehalten. Meine Neugierde steigerte sich, als mein Blick auf zwei weiße Gestalten fiel, welche je auf der rechten Seite der beiden Seitenaltäre ausgestreckt und unbeweglich auf dem Boden lagen. Es waren zwei Mönche, die sich in dieser klosterüblichen Büßerweise durch stilles Gebet zum Messelesen vorbereiteten.

Nachdem sie aufgestanden waren, wurden sie von zwei in dunkele Habits gekleideten Klosterbrüdern mit Alba und Meßgewand versehen, betraten den Altar und verrichteten das Meßopfer, nach dessen Beendigung sie sich zu den anderen Vieren in den Chor begaben. Bald darauf nahm auf dem Hochaltar das Frühamt seinen Anfang. Der Celebrirende sprach das Eingangsgebet, und alsbald stimmten die in ihren Chorstühlen stehenden sechs Mönche aus dem vor ihnen aufgeschlagenen großen Buche den einstimmigen Choral „Kyrie eleison“ mit vollen Kehlen an; aber sie sangen, nein, sie schrieen ihn sechsstimmig, das heißt Jeder in einer andern Tonart, so grausenhaft als möglich für musikalische Ohren.

Zuletzt hielt ich’s nicht länger aus. Ich erging mich im Garten und bewunderte Gottes Allmacht in seinen unzählbaren Werken der Natur. Um sieben Uhr holte mich der Kammerdiener zum Kaffee. Nach eingenommenem Frühstück erbat ich mir die Erlaubniß, die Klosterbibliothek besehen zu dürfen, die mir sogleich geöffnet wurde. Es giebt wohl nicht leicht eine bedauernswerthere Erscheinung, als ein geistloser Mensch im übermäßigem Besitz irdischer Glücksgüter. Diese Wahrheit fand ich in dem kleinen Raume der Bibliothek bezüglich des Klosters urkundlich bestätigt. Vergeblich suchte ich drei Stunden lang in den wenigen Gestellen nach einem Werk der Wissenschaft oder Kunst. Eine einzige kleine Broschüre in lateinischer Sprache fand ich, die meine Aufmerksamkeit einige Zeit in Anspruch nahm; es war eine Elegie des heiligen Bruno über die Verachtung der Welt. Lauter Asceten in kleinem Format füllten die Fächer; die geistige Armuth personificirte sich in ihnen.[1] Dagegen hingen an der innern Seite der Thür eines Wandkastens fünf große Bannkarten über den ausgedehnten Güterbesitz des Klosters, worin dessen bedeutender Reichthum in Grundeigenthum auf’s Genaueste nachgewiesen war.

„Aus solchem Contrast des geistlichen Ueberflusses einer- und seiner Armuth andererseits wird wohl auch hier bald ein Dritter seinen Vortheil ziehen,“ dachte ich und ging, da es elf Uhr schlug, in den Speisesaal. Dort traf ich eine Anzahl Gäste, die doppelt so groß war als die gestrige. Es waren geistliche und weltliche Herren. Sie standen gruppenweise um die gedeckte Tafel, bis der Schaffner ihre heiteren Gespräche durch den Ruf unterbrach: „Benedicite!“ Nach einem stillen Gebete nahm die ganze Gesellschaft Platz, und nun wurde das Mittagsmahl aufgetragen.

Es kann hier nicht der Ort sein, eine Beschreibung der vielen auf die verschiedenartigste Weise zubereiteten Fischsorten zu vernehmen. (Fleischspeisen werden bekanntlich in Karthäuserklöstern nicht gegessen.) Jede Sorte wurde von passenden Gemüsen begleitet, und zu jeder Schüssel wurde ein anderer, an Güte den vorangegangenen übertreffender Wein aufgestellt und ohne Schonung getrunken, denn die Gemüse machen Durst und die Fische – wollen schwimmen. Von der Fischsuppe, die von der Fleischsuppe dem Geschmack nach kaum zu unterscheiden war, bis zu dem zuletzt aufgetragenen Fischschinken waren alle Speisen delicat und alle Weine vorzüglich, dennoch sehnte ich mich am zweiten Tage schon nach Fleischspeisen, und hätte es damals schon Liebig’sches Extract gegeben, so würde ich mir wahrscheinlich unter irgend einem Vorwand warmes Wasser verschafft und eine Suppe bereitet haben. Allein ich mußte mich umsomehr in mein Schicksal ergeben, als ich ja die Hauptsache, wegen welcher ich gekommen war, noch nicht inspicirt hatte, nämlich das eigentliche Karthäuserleben. Deshalb säumte ich nicht, nach aufgehobener Tafel den Schaffner zu bitten, mich mit demselben bekannt zu machen, wozu der gefällige Mann alsbald bereit war.

Er führte mich aus dem zweiten Stock hinab zur ebenen Erde, und dort kam ich nun plötzlich aus den weiten Gemächern des Hauses ist die engen Räume seines Anbaues, aus den Sälen des Ueberflusses in die Zellen der Armuth, aus dem Convente des Wohllebens in das Refugium der Enthaltsamkeit, aus der heitern Gesellschaft lebensfroher Menschen zu den allein wohnenden Einsiedlern!

Wir stehen vor einer geschlossenen Thür, an der mit großen Buchstaben das Wort „Silentium“ angeschrieben steht, das uns eine der beiden Grundregeln des Ordens: Verstummen und Entbehren, ankündigt. Der Schaffner öffnet und wir treten in einen schmalen Gang, der in seiner ganzen Länge an dem Eingang zu

  1. Jetzt erst erfahre ich, daß sich in der Bibliothek zu Frauenfeld viele Bücher aus jener der Karthause, worunter auch Incunabeln, befinden sollen. Jedenfalls haben außer den drei Vorstehern die Zellenbewohner keinen Gebrauch davon gemacht, und ich erzähle nur das, was ich selbst gesehen habe; wenn mehr vorhanden war, so hat man mir es nicht gezeigt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_429.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)