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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


nach dem andern, um sich den bei Houillots frisch eingetroffenen Feind zu besehen, bis schließlich eine ganze Tafelrunde versammelt war. Ich trug damals einen Jagdanzug mit grünem Kragenaufschlag und die preußische Infanteriemütze. Vor Allem beschäftigte es sie zu erfahren, zu welchem Regiment ich gehöre, denn unter allen Uniformen, die in dem Hauptquartier des Prinzen sehr mannigfaltig waren, hatten sie die meinige noch nicht bemerkt; auch trüge ich gar keine Waffen, keinen Degen, keinen Säbel, nicht einmal einen Miniaturrevolver am Uhrschlüssel – und ein Preuße ohne Waffen sei wie ein Weinstock ohne Trauben, ein Körper ohne Seele.

„Glauben Sie denn, ich sei ohne Waffe in das Feld gezogen? Die Waffe, zu der ich geschworen, ist sehr alt und verbreitet, Sie Alle können sie gebrauchen; so hoffe ich wenigstens. Bei uns kennt und führt sie jedes Kind von sechs Jahren an.“

Allgemeines Kopfzerbrechen, was damit wohl gemeint sein könne, während ich unbemerkt von einem seitwärts stehenden Schreibzeuge eine Feder nahm. Einer erlaubte sich die Bemerkung, das hätten sie in ihren Journalen gelesen, daß jedes preußische Kind mit einer Regimentsnummer auf die Welt käme, die Muttermilch mit Pulver gemischt einsauge und als erste Morallehre die Kriegsartikel empfange. Darüber tröstete ich sie, gab ihnen jedoch dafür die Versicherung, daß der Umstand, daß jedes deutsche Kind die Feder führen lerne, nicht wenig zu seiner tüchtigen Waffenführung beitrage. Ich für meine Person führe dermalen die Feder allein als meine Hauptwaffe.

Am Abend beim Diner bemerkte ich, daß Herr und Madame Houillot sehr traurig waren. Ich suchte die Ursache in dem Unglück ihres Vaterlandes und war daher doppelt bemüht, durch Eingehen auf ihre Haus- und Familienverhältnisse die Wolken ihrer Seele zu zerstreuen. Bei meiner Rundschau durch das Zimmer hatte ich auf einer Commode Schulbücher bemerkt und in einem Winkel der Stube ein Kinderstühlchen; ich frug also, ob sie Kinder hätten.

„O zwei!“ antworteten Beide zu gleicher Zeit und Beiden stürzten mit einem Male die Thränen aus den Augen.

„Sind sie todt?“

„O daß uns Gott und alle Heiligen davor behüten mögen! Das wäre das Entsetzlichste für uns.“

„So sind sie krank?“

„Wir wagen es nicht zu fürchten.“

„Was ist denn sonst mit ihnen?“

Nun erzählte denn die Frau, daß sie zwei „Demoiselles“ hätten, die eine zu achtzehn Jahren und die andere zu zwei Jahren, daß sie die Kinder aus Furcht vor den anrückenden Feinden auf ein zwei Stunden entferntes Dorf zu Verwandten gegeben, da man von den Preußen so Entsetzliches berichtet habe, so daß sie die Kinder in größter Lebensgefahr glaubten. Nun aber sei ihnen zu Ohren gekommen, daß sich nach dem Dorfe, wohin die Kinder gerettet wurden, alle Truppenbewegungen zögen, daß dort bereits ein Zusammenstoß stattgefunden habe und die Gefahr dort noch bei Weitem größer sich erwiese, als hier in Pont à Mousson, wo sie bei ihren Eltern in größter Sicherheit sich befänden; denn die Gerüchte über die Grausamkeiten der Feinde hätten sich bei näherer Bekanntschaft mit denselben als übertrieben, als völlig grundlos herausgestellt.

„O mein Herr,“ schloß Madame Houillot, „Sie wissen nicht, was wir leiden; wir seufzen und weinen Tag und Nacht um unsere Kinder, wir finden nicht eher Ruhe, als bis wir sie wieder in unsere Arme schließen können. Wenn Sie unsern kleinen blondgelockten Engel schon kennten, dann würden Sie unsern Schmerz begreifen. Wie wird das arme Kind nach seinen Eltern rufen und weinen! Es schlief stets in meinen Armen – ach, wer wird es jetzt in die seinigen nehmen?“

Der Jammer der beiden Leute ging mir zu Herzen. Unendlich rührend war es zu sehen, wenn die Mutter bei den Mahlzeiten das Kinderstühlchen an den Tisch rückte, als wenn die kleine Posthuma auch wirklich anwesend wäre. Freilich vor ihrem Herzen war das Kind immer gegenwärtig, ihre Liebe und Sorge beschäftigte sich nur allein mit ihm.

„Warum holen Sie denn nicht ihre Kinder in die Stadt herein?“ war meine nächste Frage an den Vater.

„Weil seit vorgestern alle Zugänge zu der Stadt besetzt sind. Vor jedem Thore ist eine Compagnie; jedes Haus am Thore ist ein Wachtlocal; hinein darf Jeder, heraus Keiner.“

Das hatte Grund. Ich bemühte mich auf der Commandantur, für den Mann einen Passirschein zu erhalten. Meiner Bitte wurde jedoch das strengste Verbot, einen solchen überhaupt zu ertheilen, entgegengehalten. Ich wollte mich selbst überzeugen, ob denn die Bewachung wirklich so formidable sei, daß nicht ein kleiner Wagen zwischen den Mannschaften hindurch könne. Gewiß – die Ausgänge waren von Bajonneten gespickt, und der Hauptmann der Wache, dem ich den Sachverhalt mittheilte, zuckte bedauernd die Achsel.

„Würden Sie mich hinauslassen, wenn ich mir diesen Mann,“ damit deutete ich auf Monsieur Houillot, der mich begleitet hatte, „wenn ich ihn als Kutscher mitnähme?“

„Sie? Warum nicht? Dem stände wohl Nichts im Wege,“ war die Antwort des Officiers.

„Gut, Monsieur Houillot, bestellen Sie sich einen Wagen, in einer Stunde fahren wir.“

Wer war froher, als er! Auf dem Rückwege nach der Stadt hatte ich Mühe, ihm nachzukommen, an seinen Füßen waren Flügel. Auf diesem Wege passirte es noch dem armen Manne, daß ihm von einem seiner Landsleute, der ihn in so anscheinend gutem Einvernehmen mit einem „Prussien“ dahineilen sah, in höhnischem Tone nachgerufen wurde: „Bon Compatriote!“ Ich hörte es sehr wohl, aber mein Begleiter nicht; der war nur mit dem Gedanken an einen Wagen beschäftigt, nur einmal nahm er das Wort und sagte:

„Ach, Sie sind doch ein Goldmensch! Sie können, was Keiner kann. Sie schaffen mir meine Kinder wieder herbei.“

Eine Stunde darauf, als er mit dem Wagen vorfuhr, mußte ich ihm zu meinem großen Bedauern melden, daß ich ihn leider nicht begleiten könne. Ich weiß nicht mehr, was mir dazwischen gekommen war, nur so viel, daß es eine Abhaltung der dringlichsten Art war. Hätte Jemand die Mienen der Eltern sehen sollen, die sich schon im sichern Besitze ihres Liebsten und Theuersten glaubten! Die trüben Blicke der Eltern mahnten mich wie ein Vorwurf; ich rannte zum wachthabenden Officier, um noch ein Letztes zu versuchen. Zu meiner großen Freude bekam ich hier den Bescheid, daß die Wache um drei Uhr abgelöst würde – die Compagine hatte Marschbefehl erhalten. Ob eine neue Wache aufzöge, konnte mir der Hauptmann nicht sagen, aber er gab mir den Rath, Monsieur Houillot möge wenigstens versuchen, um die Ablösungsstunde mit dem Wagen am Thore zu halten, um im günstigen Falle losfahren zu können. Das war wenigstens eine günstige Aussicht, die man Monsieur Houillot bringen konnte. Als ich den Mann nach einigem Suchen mit Pferd und Wagen fand, peitschte er nach meinem Bescheide sofort auf die Rosse los – und nun ging’s mit einem schallenden Holala, helala wie Windesbrausen dem Thore zu. Ich folgte ihm. Hart an demselben kam mir die Compagnie entgegen. Der Hauptmann sagte mir, daß keine neue Wache aufgezogen, daß die Passage frei sei.

Als ich des Abends in den Flur eintrat, kamen mir Monsieur und Madame Houillot mit ausgestreckten Armen entgegen, Alles an ihnen war Glück und Seligkeit, und mit dem Ausdruck derselben riefen sie mir entgegen: „Sie sind da – sie sind da!“

Zu gleicher Zeit präsentirten sie mir zwei Mädchenexemplare, und fürwahr, die waren es werth, daß man sich um ihren Wiederbesitz so viel Mühe gegeben hatte! Die älteste im Alter von achtzehn Jahren glich der Mutter; es war ein wahrhaft schönes Mädchen, eine schlanke feine Gestalt von Seele und Anmuth durchhaucht. Das bleiche herrlich geschnittene Gesicht umgab eine Fülle dunklen Haares und unter demselben schauten ein Paar tiefe veilchenblaue Augen gar herzbezwingend hervor. Und diese Grazie, diese edle Feinheit des Benehmens, das ebenso sehr von Keckheit, als von Blödigkeit entfernt war! Ich habe selten ein so schönes Mädchen gesehen, das zugleich auch so anmuthig war. Zwischen der Aeltesten und Jüngsten lag eine Pause von nur sechszehn Jahren. Wie erstaunt mögen die Eltern gewesen sein, als eines schönen Morgens zwei neue himmelblaue Augen verwundert im Zimmer umherschauten, als wollten sie sagen: „Bin ich denn hier auch an die richtige Adresse gekommen?“ Ein wahrer Engelskopf, baus- und rothbäckig, umwallt von seidenen blonden Löckchen, die beiden Hände voll und zur Begrüßung des Fremdlings nur noch die vollen Kirschenlippen übrig behaltend.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_413.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)