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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Aber der Kreis jedes Dramas ist eng, auf ein nur individuelles Centrum sind alle seine Radien gerichtet; die ganze Weite und Tiefe unserer Weltanschauung, die bewegte Gestaltenfülle unseres Lebens vermag nur die dehnbare Kunstform des Romans in sich zu fassen. Durch „Soll und Haben“ und „die verlorene Handschrift“ ist Freytag der dichterische Darsteller deutscher Gegenwart im höchsten Sinne geworden. Beide Seiten bürgerlichen Lebens hat er verherrlicht: die thätig erwerbende, gütererzeugende, wie die geistig sinnende, der es verliehen ward, unvergängliche Werthe zu schaffen. Kaufmann und Gelehrter stehen da als Vertreter dieser Richtungen, aber welch ein Reichthum an anderen Gebilden ist um sie versammelt! Fern von den Geschäftsräumen und Studirstuben der Städte erscheint das arbeitsame Landleben, überhaucht vom frischen Athem einfacherer Natur. Was aber dies bunte und doch scharf gezeichnete Gemälde deutschen Wesens erst wahrhaft treu macht, ist die sittliche Hoheit der Gesinnung, die sich darin ausspricht. Anton Wohlfart und Felix Werner, diese Schöpfungen eines Dichters, den man im guten Sinne mit Fug realistisch nennt, tragen doch die ganze Idealität modern deutscher Ethik in sich. Diese unsere Sittlichkeit jedoch beruht nun einmal – niemand kann es leugnen – auf der Weltansicht des Bürgerthums; darum war gerade Freytag der Mann, sie dichterisch zu verkörpern, denn kein bürgerlicherer Sinn läßt sich denken, als der seine – „ehrlich“, das ist sein Lieblingsbegriff. Nicht aufzureizen etwa gegen Fürstentum und Adel ist seine Tendenz; was man so Tendenz nennt, dadurch hat er überhaupt als echter Künstler nie seine Werke verunstaltet. Er sagt nur, was er geschaut und erfahren; wohl kennt er den Bann, in den Vorurtheil und Standeszwang Fürsten und Edle schlagen, aber er weiß, daß kernhafte Tüchtigkeit oder menschliche Liebenswürdigkeit ihn zu durchbrechen vermögen. So steht neben dem sinkenden Geschlechte der Rothsattel die vornehme Seele Fink’s in schöpferischer Kraft, so tröstet Prinz Victor’s harmlose Frische über die düstere Verkommenheit seines fürstlichen Oheims.

Und welches nun ist das Ergebniß der Betrachtung unserer deutschen Gegenwart für Freytag? „So leben wir,“ ließ er im Jahr 1864 seinen Professor ausrufen; „viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgiebt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern; in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung.“ Wer in der Welt möchte heut diese stolzen und doch bescheidenen Worte Lügen strafen? Die höchste Freude, von der unser Freund weiß, ist darin ausgesprochen, „die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben.“ Dessen aber inne zu werden, dazu bedarf es tiefer Kenntniß unserer Geschichte; nur aus dem Werden kann das Wesen begriffen und beurtheilt werden. Freytag gelang das durch jahrelange liebevolle Forschung; die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ machen nun auch uns möglich, es ihm nachzuthun. Sie sind eine deutsche Geschichte, nach aller Strenge unserer kritischen Wissenschaft aus den Quellen geschöpft, und dennoch eine Geschichte, wie sie ein Dichter schreibt. Denn diesem ist überall der Mensch, die lebendige Einzelexistenz die Hauptsache, während sonst in historischer Betrachtung nur allzuoft das Individuum so gleichgültig erscheint, wie das schwingende Aethertheilchen, durch das die Wellenbewegung des Lichtes unverweilend hindurchzittert. So hat uns Freytag eine Geschichte des deutschen Volksgemüths geschrieben aus den absichtslos naiven Selbstbekenntnissen der einzelnen Gemüther. Er lehrt uns allenthalben seit den Tagen deutscher Urzeit „denselben Herzschlag erkennen, der noch uns die wechselnden Gedanken der Stunde regelt“, aber er zeigt auch, wie von Jahrhundert zu Jahrhundert sich die Seele des Einzelnen immer freier aus der gebundenen Unterordnung unter die Seele des Volkes gelöst hat. Wie unendlich viel großartiger mußte so unser Gesammtleben werden durch das auseinanderstrebende Wachsthum seiner Theile, die doch immer am Ganzen haften und aus ihm gedeihen, gleichwie die ausgreifenden Zweige des saftdurchquollenen Baumstamms! Ueber den Schluß dieser Bilder ward schon vor Jahren der Glanz der nun erfüllten Weissagung ausgegossen: „Es ist eine Freude geworden, Deutscher zu sein; nicht lange, und es mag auch bei fremden Nationen der Erde als eine hohe Ehre gelten.“

Was aber der Mensch nahe verhofft, das sucht er selbst arbeitend herbeizuführen. Freytag ist als handelnder Politiker wenig hervorgetreten – dem constituirenden norddeutschen Reichstage hat er angehört –, doch unermüdlich hat er seine rathende, anfeuernde oder warnende Stimme in der Presse laut werden lassen. Zweiundzwanzig Jahre lang hat er die „Grenzboten“ geleitet; seitdem er das liebgewonnene Blatt aufgeben mußte, ist er die Seele einer andern Wochenschrift geworden, die seit Beginn dieses Jahres unter dem freudigen Namen „Im neuen Reich“ rasch und glücklich emporgekommen ist. Es hieße die Geschichte der letzten Jahrzehnte erzählen, wollt’ ich sein politisches Wirken im Einzelnen darstellen. Denn überall, wie es Journalistenart und -Amt ist, hielt er sich an den vorliegenden concreten Fall, ja seine besondere, realistische Natur legte ihm diese weise Beschränkung noch näher als Anderen. Es giebt einen Liberalismus des Systems, der aus allgemeinen Lehrsätzen dem Urtheilen und Handeln des Augenblicks Maß zu geben sucht; consequent durchgedacht führt er eigentlich stets zu radicalen Anschauungen. Das ist nun Freytag’s Weise nicht. Unverrückbar fest ruht in seinem Innern allerdings der sittliche Geist, der auch in der Politik sein Thun und Denken ohne Wandel richtet. Sonst ist ihm angeboren nur der freie bürgerliche Sinn überhaupt, den keine Rücksicht auf rechenschaftslose Autorität, was für Art sie immer habe, bindet, kein Heiligenschein sich selbst bejahender Dogmen blendend verschüchtert; und weiter ist ihm unzerstörbar eigen die Liebe zur Nation, wie zu jeder ihrer echten, natürlichen Lebensformen. Von selber auch wuchs in ihm, dem Preußen, früh die Einsicht heran, welchen Weg die Nation zu ihrem Heile beschreiten müsse, von wannen ihr Hülfe kommen werde; die Zuversicht der Retterbestimmung Preußens, die Hoffnung auf Weisheit und Thatkraft seiner Herrscher hat ihn auch in den trübsten Stunden, die über unser Haupt gegangen sind, nie verlassen. Aus diesen Elementen setzt sich sein Urtheil in jedem Falle zusammen. Ist, was geschieht oder geschehen soll, sittlich gut, entspricht es den realen Bedürfnissen des Volkes und der Bildungsstufe, die es bisher erstiegen, liegt es endlich in der Bahn der allgemeinen nationalen Entwickelung? – das und keine anderen sind seine politischen Erwägungen; nicht der Widerspruch des kühnsten, genialsten und glücklichsten Machthabers vermöchte ihn darin irre zu machen. Braucht es der Versicherung, wie gewaltig ihn die Ereignisse des letzten Jahres ergriffen und erhoben haben? Des Krieges ist er unmittelbar Zeuge gewesen bis nach der Katastrophe von Sedan; er folgte dem Hauptquartier des kaiserlichen Kronprinzen, dem er persönlich nicht fremd ist. In die Zukunft blickt er vertrauensvoll hinaus, doch verschließt er das Auge nicht vor den Versuchungen und Gefahren, welche die neue, leider ungewohnte Größe unserem Volke entgegenbringt. Darin der Nation ein treu berathender Freund zu sein, mit willkommener oder unwillkommener Mahnung, dünkt ihm heilige Pflicht.

Wie er nun leibt und lebt, wie er nach Menschenloos sich abfindet mit Freud’ und Leid des wiederkehrenden und doch vielgestaltigen Tages – ich müßte bei ihm selbst in die Schule gehen, wollt’ ich es wagen, dies Bild aus der deutschen Gegenwart zu zeichnen. Ein paar leichte Umrisse jedoch mögen wenigstens andeuten, wie sehr es ein deutsches zu heißen verdient. Freytag steht noch in der Vollkraft seiner Jahre. Sein Wuchs ragt über Mittelmaß hinaus, er trägt sich fest und aufrecht, die allgemeine Wehrpflicht hat auch an ihm einst ihre stählende Zucht geübt. Die Züge seines Angesichts sind einfach und offen wie sein Charakter; die hohe, freie Stirn ist von schlichtem blondem Haar umrahmt, aus den lichtblauen Augen, deren Sehkraft nicht weit trägt, schaut doch Güte freundlich hervor. Schalkhafte Fröhlichkeit umspielt nicht selten seinen Mund, dann streicht er wohl einmal behaglich mit der Hand über den blonden Knebelbart. Seine Geberde ist gemessen, doch begleitet seine Rechte nachdrucksvoll die scharf betonten Sätze, wenn er aus ganzem Ernste der Seele spricht. So sehr er Gewalt hat über die Sprache, so einfach wählt er doch die Worte, Deutlichkeit und Wahrheit ist die Richtschnur seines Ausdrucks. Nur wenn er seinem Humor freien Lauf läßt, nimmt seine Rede buntere Färbung an, da läßt er denn wohl bisweilen auch heimische Laute vernehmen. Auch den leblosen Gegenständen, die uns umgeben, leiht er dann scherzend Odem und Empfindung, auch unvernünftigen Wesen Gedanken und allerhand neckische Absichten. Dieser Zug, an die gemüthvolle

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_411.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)