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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Ich war eine Zeitlang im Kriegsministerium, einige Monate im Ministerium des Innern und, wie schon bemerkt, längere Zeit in der Treasury angestellt und lernte dort Clerks aus allen amerikanischen Staaten kennen. Ich muß gestehen, daß mir ein sehr angenehmer Eindruck aus dieser Zeit zurückgeblieben ist und daß die ungünstigen Ansichten, welche ich in Bezug auf den Charakter der Amerikaner aus Europa mit herüber gebracht hatte, sich durchaus in das Gegentheil verwandelten. Ich fand die Amerikaner durchweg – einzelne Ausnahmen können gar nicht in Betracht kommen – gutmüthig, freundlich, hülfreich, selten neidisch, sehr gescheidt und praktisch und in ihrem Fühlen und Denken anständig. Im Durchschnitt sind sie, wenn wir den deutschen Maßstab anlegen wollen, sehr unwissend, das heißt, sie haben meist eine sehr mangelhafte Schulbildung und hin und wieder sind ihre Manieren nicht besonders fein; allein sie sind außerordentlich lernbegierig, haben einen scharfen Verstand und wissen sich Neugelerntes nicht nur sehr schnell anzueignen, sondern dasselbe auch praktisch anzuwenden und Schlüsse und Folgerungen daraus zu ziehen.

Die Unwissenheit ist oft überraschend und ich war anfangs nicht wenig erstaunt, wenn ich selbst Zimmerchefs ganz laut fragen hörte, wie dies oder jenes Wort geschrieben werde. Ich konnte zuerst nicht begreifen, weshalb so viele Clerks fortwährend Webster’s Dictionnaire consultirten, bis ich endlich herausbrachte, daß dies nur wegen der Orthographie geschah. Ein Herr, ein Schullehrer, welcher in Yale College erzogen war und welcher die Einrichtungen der preußischen Gymnasien studirt hatte, sagte mir, daß ein Graduirter des Collegs in Bezug auf Kenntnisse kaum einem Secundaner gleichzustellen sei.

Man sollte meinen, daß dieser Mangel an Kenntniß dem Geschäftsbetrieb schaden müsse; allein die Praxis zeigt, daß dies keineswegs der Fall ist. Ich glaube schwerlich, daß in irgend einem deutschen Bureau soviel Ordnung herrscht, wie ich sie überall in den amerikanischen Bureaux fand, und daß irgendwo die Geschäfte prompter und gründlicher erledigt werden. Es muß das umsomehr in Erstaunen setzen, wenn man erfährt, wie diese Clerkstellen besetzt werden, und in Betracht zieht, daß das Beamtenpersonal beständig wechselt, daß nicht ein einziger sicher ist, ob er seine Stelle noch sechs Monate haben wird.

Was gehört nicht bei uns dazu, um eine Stelle mit zwölfhundert Thalern Gehalt in einem Ministerium zu erhalten! Nachdem man sechs Jahre das Gymnasium besucht, das Abiturientenexamen gemacht, drei Jahre auf einer Universität studirt und wieder ein Examen gemacht hat, erhält man endlich die Erlaubniß, dem Staat als Referendar – einige Jahre umsonst – zu dienen. – In Amerika macht man nicht so viel Umstände. Ein junger Mann, welcher die gewöhnliche Schulbildung hat, das heißt der möglichst orthographisch schreiben und rechnen kann und sonst nicht auf den Kopf gefallen ist, hat Lust seine Stelle in einem Laden oder Comptoir mit einer besser bezahlten in einem Ministerium in Washington zu vertauschen. Hat er oder seine Familie das Glück, einen der Senatoren oder Congreßmitglieder seines Staates zu kennen, oder auf irgend eine Weise für sich zu interessiren, so geht dieses Congreßmitglied zu dem betreffenden Minister und sagt ihm, mehr oder weniger dringend, je nachdem die Umstände sind, daß er für Herrn N. N. eine „Clerkship“ wünsche. Ist der Empfehlende sehr einflußreich oder sehr dringend und gerade kein Platz frei, – nun, so findet sich immer irgend ein Clerk, der den Erwartungen nicht entspricht, und dieser erhält dann einen Brief, der weiter nichts enthält, als: „Man bedarf Ihrer Dienste nicht länger“. Der betrübte Clerk packt seine sieben Sachen augenblicklich zusammen und die Stelle ist erledigt. Manchmal ist man rücksichtsvoller, zum Beispiel wenn Reductionen gemacht werden müssen, und schreibt: „Ihre Dienste werden vom nächsten Ersten an, oder selbst drei Monate weiter, nicht mehr erforderlich sein“.

Das scheint uns in Deutschland über alle Beschreibung hart; allein es ist dort einmal so Gebrauch und die Regierung bezahlt nur Beamte, so lange sie dieselben braucht, und bezahlt sie gut. Jeder, der eine Stelle annimmt, weiß das; wenn ihm diese Ungewißheit nicht convenirt, braucht er die Stelle ja nicht anzunehmen.

Da es vorkam, daß gar zu unwissende Menschen zu Stellen empfohlen wurden, und es auch wünschenswerth schien, einen Vorwand zu finden, eine Stelle Jemand nicht zu geben, während man den empfehlenden Senator oder Deputirten nicht vor den Kopf stoßen wollte, so ordnete man an, daß jeder Clerk ein Examen zu passiren habe, – ein Examen, welches bei uns jeder Quintaner passiren würde, es sei denn, daß man ihn nicht passiren lassen wollte.

Der neue Clerk wird also in ein Bureau eingeführt und erhält sein Pult nebst allem Zubehör. Er hat nicht die allergeringste Idee von dem Geschäft, welches man von ihm verlangt; allein der Sectionschef hat Geduld und erklärt ihm, was zu thun ist. Der neue Clerk sieht nach rechts und links, wie es die Anderen machen, und nach einigen Wochen füllt er seinen Platz vollkommen aus.

Die Arbeit, die Einem manchmal zugemuthet wird, würde den Stolz eines Finanzraths – der ungefähr mit einem Treasury-Clerk zweiter Classe in einem Range stehen möchte – auf das allerhöchste verletzen; allein in Amerika scheut man sich keiner Arbeit und selbst die höchsten Beamten legen Hand an, wenn es nothwendig ist. Das Ordnen der Banknoten nach ihren Zahlen ist ein Geschäft, welches gewöhnlich den Mädchen überlassen wurde; allein es geschah nicht selten, daß mehrere Millionen auf einmal in das Bureau kamen, und da die Arbeit Aller stockte, ehe dieses Ordnen nicht vorgeschritten war, so erhielt jeder Beamte im Bureau sein Paket und der Chef selbst schloß sich nicht aus. – Mehrere Monate habe ich nichts gethan, als die neuen Bücher für die Sieben-Dreißiger vorbereitet, indem ich die Ueberschriften machte und die laufenden Nummern einschrieb. Ein Kind hätte das und besser machen können; wie oft, müde von der monotonen Arbeit, übersprang ich eine Nummer, und wenn ich es nach einer halben Stunde gewahr wurde, dann hatte ich eine Stunde zu radiren, um den Fehler zu verbessern!

Obwohl die Beamten alle Clerks heißen und man deutsche Beamtenunterthänigkeit in Amerika nicht kennt, so ist die Disciplin in den Bureaux doch ziemlich streng und der dem andern vorgesetzte Clerk wird meist gebührend respectirt. Der Grund ist wohl hauptsächlich der Trieb der Selbsterhaltung, denn wiederholte Klagen haben Entlassung zur Folge.

Trotz dem befolgten System giebt es in der Treasury Clerks, die in derselben grau geworden sind. Thaten sie ihre Arbeit ordentlich oder erwarben besondere Geschicklichkeit in einem speciellen Zweige und – vor allen Dingen – mischten sich nie in Politik, sondern waren stets Anhänger der herrschenden Partei: dann hatte Niemand ein Interesse, sie zu entfernen, und man vergaß sie.

Die Londoner „Times“ trat so feindlich gegen die Union auf, daß ich, der ich in den Vereinigten Staaten bleiben wollte, und weil meine Sympathien durchaus mit dem Norden waren, die Verbindung mit diesem Blatte aufgeben mußte. Ich verlor dadurch vier- bis fünfhundert Dollars monatlich und es erschien mir wünschenswerth, eine Anstellung in der Treasury zu erhalten. Der damalige Finanzminister war Herr Salomon P. Chase. Ich hatte die beste Empfehlung an ihn und sah denn auch mein Gesuch um eine Stelle von ihm sehr freundlich aufgenommen.

Herr Chase ist ein großer stattlicher Mann, dessen Aeußeres den Eindruck von Güte und Würde macht. Seine Stirn ist sehr hoch, sein ziemlich volles Gesicht rein und klar, die Nase kurz und kräftig, der Ausdruck des ziemlich vollen Mundes angenehm und das Kinn rund und etwas sinnlich; seine Bewegungen sind elegant und würdevoll und seine Unterhaltung ist verbindlich und leicht scherzhaft. Er ist durchaus und in jeder Hinsicht eine angenehme und bedeutende Erscheinung.

Ich sollte dem Bureau des dritten Auditors zugetheilt werden und ein Examen vor diesem und einem andern Auditor bestehen. Der eine der beiden Herren kam etwas spät und es blieb nur eine halbe Stunde für das Examen. Ich muß gestehen, ich war etwas besorgt, denn wenn ich auch Trigonometrie und Stereometrie studirt hatte und einst trefflich mit Logarithmen und Gleichungen umzuspringen wußte, so war das doch lange her und ich bildete mir ein, daß Beamte im Finanzministerium ganz besonders schwierige Rechenaufgaben zu lösen hätten. Meine Besorgniß war jedoch sehr unnütz. Ich wurde ersucht, meine Lebensgeschichte kurz niederzuschreiben. Das war natürlich schnell geschehen und für einen Zeitungscorrespondenten in der That eine leichte Aufgabe. Man erklärte sich vollkommen befriedigt und ich wurde in meine Stelle eingeführt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_367.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)