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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Dienerin suchten nun, durch die Wache beruhigt, ihr Lager wieder auf. Die Ermüdung beider Damen war so groß, daß sie bis gegen vier Uhr Morgens fest schliefen.

Da wurde draußen plötzlich getrommelt und geblasen, barsche Commandos erschallten, man hörte Kanonen und schweres Fuhrwerk rasseln, überhaupt Kriegslärm ertönen. Es mußte etwas Außerordentliches in Saarbrücken vorgehen. Schnell war die Barricade von der Thür entfernt und Frau Lucca trat in’s Freie.

Lieutenant v. L. kam auf einem feurigen Fuchs gesprengt und rapportirte hastig: „Wir sind alarmirt, Madame. Die Franzosen halten’s nicht länger aus, sie wollen Prügel haben. Ist Alles schon voraus, ich bin nur zurückgeblieben, um Ihnen Rapport zu erstatten. Auf Wiedersehen! Doch halt, beinahe hätte ich vergessen, Ihnen zu berichten, daß Ihr Gemahl im Lazareth zu Pont à Mousson sich befindet.“

„Wie weit ist das von hier?“

„Mindestens zehn Meilen. – Man winkt mir. Verzeihen Sie! – Der Ritter muß zum blut’gen Kampf hinaus! A revoir!“

Und dahin sprengte er mit der Schnelligkeit einer Chassepotkugel.

Nach dem Abzuge der Truppen von Saarbrücken war der Ort wie ausgefegt. Einen alten Mann, der des Weges kam, rief die Sängerin an: „Alter Herr, ist hier kein Wagen zu bekommen?“

„Nicht ’n Rad!“ brummte der Alte und wollte weiter gehen.

„Nur noch eine Frage,“ bat sie den Alten. „Wer ist von unserm Militär noch hier?“

„Nur noch der Großherzog von Oldenburg. Da kommt er eben mit seinem Stabe die Straße hierzu geritten. Bon jour!“ und fort war er.

„Schnell, Editha! Da kommt unsere letzte Hoffnung!“ rief hastig Frau Lucca, und beide Damen stellten sich, Front machend, an der Straße auf.

Der Großherzog von Oldenburg kam im eifrigen Gespräch mit einem höhern Officier langsam herangeritten, die Officiere seines Stabes folgten.

„Guten Morgen, Durchlaucht!“ grüßte die Sängerin mit lauter Stimme.

Der Großherzog hielt überrascht sein Pferd an, und auf die Grüßende blickend, sprach er: „Irre ich mich? Nein; Sie sind doch die Berliner Primadonna, Frau Lucca! Ich hatte einige Male das große Vergnügen, Sie in der Oper zu hören.“

„Durchlaucht, es freut mich, daß Sie die Gnade haben, sich meiner unbedeutenden Person zu erinnern. Sr. Durchlaucht dem Großherzog von Mecklenburg wurde ich bei Hofe vorgestellt; hier thu’ ich’s selber, auf offenem Markt. Hab’ die Ehr’ – Pauline Lucca!“

„Sehr erfreut! “ erwiderte der Großherzog, an die Mütze fassend. „Aber was führt Sie hierher in die Wirren des bösen Krieges?“

„Ich will meinen Mann nach Hause haben, der verwundet in Pont à Mousson liegt. Bis Saarbrücken bin ich gekommen; aber hier hat die Weltgeschicht’ ein End’.“

„Was heißt das?“ fragte lächelnd der Großherzog.

„Ich liege hier fest und kann keinen Wagen bekommen; da richte ich an Ew. Durchlaucht die dringende Bitte, mir zu helfen.“

„Das, schöne Frau, ist mir beim besten Willen nicht möglich,“ sagte bedauernd der Großherzog. „Mir steht augenblicklich kein andres Gefährt zur Verfügung, als der meinem Zuge folgende Planwagen, auf dem sich meine Diener und allerhand Reise-Utensilien befinden.“

„Durchlaucht,“ erwiderte rasch die Sängerin, „Ihre Diener scheinen mir sehr gesunde Beine zu haben. Könnten nicht ein paar von diesen die Partie nach Pont à Mousson zu Fuß machen? Da würde Platz für mich und meine Kammerjungfer nebst kleinen Gepäck!“

„Ich kann doch einer so berühmten Sängerin keinen Sitz im Planwagen anbieten!“

„Durchlauchtigster Großherzog! Schlecht fahren ist besser als gut laufen. Haben Sie in Betreff des Planwagens weiter keine Bedenken?“

„Nein, das sind die einzigen.“

„Dann bitte ich, drei Mann vom Planwagen abzucommandiren, damit ich aufsteigen kann.“

Der Großherzog gab dem Wunsche mit Lachen nach, reichte darauf der Sängerin mit der freundlichsten Miene die Hand, lud sie ein, nach beendetem Krieg seinen Hof zu besuchen, entschuldigte sich mit Eile und ritt dann mit seinen Officieren im Trabe weiter.

Drei Diener waren bereits vom Wagen gestiegen und Kiste und Koffer schnell aufgeladen, danach bestieg auch die Lucca mit ihrer Kammerjungfer die „Equipage des Planes“ und fort rollte dieser in der Richtung von Pont à Mousson.

Sie sollten diese Stadt erst in den Spätstunden des folgenden Tages erreichen, nachdem sie nahezu sechsunddreißig Stunden ununterbrochen im Planwagen zugebracht und selbst darin geschlafen hatten, nachdem sie manche Fährlichkeit und manches Abenteuer überstanden hatten, dessen Aufzählung im Einzelnen uns hier zu weit führen würde.

Wo nun aber den Kranken finden? Ganz Pont à Mousson war in ein großes Lazareth umgewandelt; fast an jedem Hause wehte eine der trübseligen Fahnen mit dem Genfer Kreuz. Frau Lucca fragte unverdrossen rechts und links in den Häusern nach, und im fünfzehnten erhielt sie endlich die Nachricht: „Lieutenant von Rhaden, schwer verwundet, im ersten Geschoß, Zimmer Nr. 9.“

Bei dieser Nachricht schwand ihr bisheriger Muth.

„Also schwer verwundet?“ rief sie, und eine böse Ahnung beengte ihre Brust.

„Wir hoffen, ihn dennoch durchzubringen,“ sagte in beruhigendem Tone der Arzt. „Fassen Sie sich, Madame, es wird noch Alles gut werden.“

„Wird es ihm nicht schaden, wenn er mich plötzlich vor sich hintreten sieht?“ fragte die bekümmerte Gattin.

„Fast fürcht’ ich es,“ erwiderte der Arzt. „Bei klarem Verstande und in Fieberphantasien nannte er unaufhörlich Ihren Namen. Folgen Sie mir gefälligst die Treppe hinauf; aber erst, wenn ich den Kranken vorbereitet habe, werde ich mir erlauben, Sie in’s Krankenzimmer zu rufen.“

Sie folgte und wartete auf dem Corridor einige Minuten; da öffnete der Arzt die Thür und flüsterte: „Er schläft; bitte leise einzutreten!“

Die Sängerin trat ein, ihre Blicke suchten den geliebten Mann; aber welch ein Bild des Jammers bot sich ihren Augen dar! In einem kleinen dumpfigen Raume stand ein Bett, der Größe nach für ein Kind berechnet; darauf ruhte eine männliche Gestalt von mindestens sechs Fuß, die Beine über die untere Bettwand herabhängend, Kopf und Gesicht fast ganz verhüllt durch Verbände und Bandagen, Mund und Nase dick aufgeschwollen und bleifarbig.

„Das ist mein Mann?“ fragte die Sängerin mit unsicherer Stimme.

„Herr Lieutenant von Rhaden, ja.“

Sie sank auf einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

„Madame,“ sagte der Arzt mit leisem Vorwurf, „ich würde Sie hier nicht eingeführt haben, hätte mir Ihr Gemahl nicht oft erzählt, daß Sie eine Frau von besonderer geistiger Stärke wären.“

Die Sängerin stand auf, ihr Gesicht war bleich, aber ihre Miene gefaßt.

„Mein Mann soll sich in mir nicht geirrt haben,“ sagte sie mit sicherer Stimme und trat an das Bett. „Adolph,“ flüsterte sie, „Deine Pauline ist hier!“

„Er schläft noch,“ bemerkte der Arzt.

„Er hat ja aber die Augen weit geöffnet,“ entgegnete sie.

„Nur das linke; die Sehnen dieses Auges sind durch den Schuß zerrissen, er kann es nicht mehr schließen, ebensowenig die Wimper bewegen; auf dem linken Ohre ist er taub; auch über die linke Partie seines Mundes, wie über die linke Seite seines Gesichts überhaupt ist er völlig machtlos.“

„Und wird das so bleiben?“ fragte die Gattin angstvoll.

Der Arzt zuckte die Achseln „Wir wollen das Beste hoffen.“

„Pauline!“ hauchte der Kranke mit schwerer, vom Schuß lädirter Zunge.

„Bitte, Madame, hinter das Kopfende des Bettes zu treten,“ sagte rasch und leise der Arzt. „Ihr Herr Gemahl ist nahe dem Erwachen, und Ihr plötzlicher Anblick würde ihn zu sehr erschüttern.“

Der Kranke bewegte sich, der Arzt setzte sich an’s Bett und befühlte den Puls des Patienten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_302.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)