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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


ernährenden Blutgefäße und seine Nerven aufnimmt. Es ist ein solches Haarsäckchen die zierlichste Seilerwerkstätte, die man sich denken kann: auf dem Grunde sitzt ein kleiner Kegel (die Nährmutter, Matrix), der unermüdlich Säfte an sich zieht, aus ihnen Zellen bildet und sie sorgfältig aneinander fügt zu einer mächtigen Lage; als Ueberzug erscheint eine einfacher und derber construirte Lage dachziegelförmig übereinander geordneter Deckplatten, die mit ihrem freien Ende nach der Haarspitze gerichtet sind. Nebenbei bemerkt, weicht eben in Folge dieser Richtung der Deckplatten ein zwischen den Fingern der Länge nach hin und her geschobenes Haar stets nach seiner Wurzel hin zurück. Hat das so fertig gestellte Haar einen Theil seines Weges innerhalb seiner Mutterhülle zurückgelegt, so wird es für seinen künftigen Aufenthalt über der Haut, im Freien, zu größerem Widerstande gegen die Fährlichkeiten, welche ihm bevorstehen, vorbereitet: besondere Drüsen (Talgdrüsen) präpariren für jedes Haar ein besonderes, conservirendes Oel; damit ihm Zeit gelassen werde, sich mit diesem Oel recht vollständig zu durchtränken, ist die Einrichtung getroffen, daß das Haarsäckchen kurz vor seiner Tagesmündung eingeschnürt ist; das Haar, ohnehin durch seine nach der Spitze zu gerichteten Deckplatten in seinem Hervorwachsen aufgehalten, erfährt an dieser Einschnürungsstelle einen größeren Widerstand – es muß sich hindurchwinden und preßt in dem Engpaß das ihm zugeführte Oel tief in sein Inneres hinein. Nun ist es geschmeidig und widersteht den Zerrungen der Frisur und den Witterungseinflüssen. Es ist zu Tage und wächst.

Anfangs geht es mit diesem Wachsthum ziemlich schnell (nach den Beobachtungen von Berthold, Donders und mir alle zehn Tage etwa eine bis zwei Linien), aber wenn das Haar im Mittag seines Daseins angekommen ist (nach meinen Beobachtungen, wenn es etwa zwei Jahre steht und zehn bis zwölf Zoll lang geworden ist), dann verlangsamt es sein Wachsthum bis auf ein halb so rasches Tempo, und gegen das Ende seines Daseins lassen sich nur etwa alle vier Wochen bei Messungen kleine Zunahmen wahrnehmen.

Aus den Aeußerungen der meisten meiner Patienten weiß ich, daß die geläufigen Vorstellungen über die absolute Länge, welche das Haar erreicht, irrig sind. Ich habe tausende von Haaren gemessen, zum Theil von Damen mit üppigem Haarwuchs, und ich habe die Länge des Haares im Durchschnitt nur zweiundzwanzig Zoll gefunden; eine Länge von achtundzwanzig Zoll kam schon sehr selten vor.

Die natürlichen, unabänderlichen Verhältnisse des Haarwuchses bedingen es, daß jedes Haar, sobald es eine gewisse Zeit bestanden hat, seine Entwicklung abschließt, ausfällt und durch ein neues ersetzt wird (normaler Haarausfall). Welche Länge das Haar vor diesem typischen Haarwechsel erreicht, hängt hauptsächlich ab von der ursprünglichen Beschaffenheit der Hautstelle, an der es gebildet worden; andere Momente haben auf die typische Länge nur einen sehr untergeordneten Einfluß. Ich bemerke dies ausdrücklich, weil die Meinung allgemein verbreitet ist, man könne durch häufiges Schneiden des Haares die Länge desselben vermehren oder, wie man sich ausdrückt, „den ganzen Haarwuchs kräftigen“. Das Schneiden des Haares wirkt auf das Wachsthum desselben ganz anders, als die geläufige Meinung annimmt. Diese Frage ist für die ganze Pflege des Haares so wichtig, daß ich einen Theil der von mir hierüber angestellten Beobachtungen kurz erwähnen will.

Ich schnitt bei einer größeren Anzahl gesunder Männer im Kopfhaar einzelne Kreise von einem Zoll Durchmesser gleichmäßig kurz ab und verglich von Woche zu Woche die Intensität des Wachsthums an den geschorenen Stellen mit der der benachbarten; das Resultat war überraschend: in einzelnen Fällen wuchs das kurz geschorene Haar in demselben Verhältniß wie das benachbarte nicht geschorene, in den meisten Fällen trat dagegen nach dem Schneiden eine Verlangsamung des Wachsthums ein; nie habe ich eine Steigerung der Geschwindigkeit beobachtet. Ich habe seitdem dieses physiologische Gesetz bei der Krankenbehandlung oft erfolgreich verwerten können.

In der Norm findet sich unter dem täglichen Haarausfall auch bei dem üppigsten Haarwuchs eine Anzahl kurzer Haare; zuweilen sind es kurze abgerissene Stücke, in der Regel aber besitzen sie deutliche Spitze und deutliche Wurzel, haben also ihren Lebenslauf völlig abgeschlossen. Sie werden zunächst geliefert von der Randpartie des ganzen Haares; an den Stellen, an welchen der stärkere Haarwuchs aufhört, findet sich ein schmaler Uebergangsstreifen, an welchem kurzes und gewöhnlich auch feineres Haar producirt wird. Aber auch an den übrigen Theilen des Kopfes wird regelmäßig eine gewisse Menge kurzer Haare gebildet.

Es beginnt nun fast jede chronische Haarkrankheit damit, daß ein Theil des Haares an typischer Länge einbüßt; es findet sich alsdann im Haarausfall eine größere Anzahl kurzer Haare. Wie groß darf diese Zahl sein, ohne ein beginnendes Leiden anzudeuten? Ist es möglich, hier die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit festzustellen?

Zur Beantwortung dieser Frage, welche für die möglichst frühe Erkenntniß der chronischen Haarkrankheiten von der allergrößten Wichtigkeit ist, habe ich bei sehr vielen Personen in verschiedenem Lebensalter und lange Zeit hindurch den täglichen Haarausfall untersucht. Die Verschiedenheiten, welche ich fand, waren recht erheblich; allein es ließen sich bei der großen Zahl von Untersuchungen die extremen Fälle als solche erkennen und ausscheiden, und es ließen sich sonach Mittelgruppen aufstellen. Die bezüglichen Verhältnisse sind am klarsten bei Frauen, die ihr Haar unverkürzt tragen, zu erkennen. Hier lautet das Schlußresultat: „Bei dem täglichen Haarausfall einer Dame darf in gesunder Zeit nie mehr als der vierte Theil des Haares unter sechs Zoll messen.

Bei Männern ober bei Frauen mit kurzer Haartracht ist die Entscheidung durch einfache Zählung nicht leicht zu ermöglichen; die genaue Feststellung, ob ein solches Haar gesund ist, kann (wenn es sich um die frühesten Stadien eines chronischen Haarleidens handelt – und dies sind diejenigen, in welchen am ehesten Hülfe möglich ist) nur durch Untersuchung des Haarausfalls seitens des Arztes erfolgen – doch gebe ich weiter unten auch für solche Fälle eine freilich nur summarische Durchschnittszahl.

Die ursprüngliche architektonische Anlage der in einer Haargruppe zusammenstehenden Haare ist so gefügt, daß sie ihr Wachsthum niemals zu ein und derselben Zeit beenden; die Haare, welche in einem Haarkreise sich befinden, haben nicht ein und dieselbe Dicke, nicht ein und dieselbe Geschwindigkeit des Wachsthums und erreichen nicht ein und dieselbe Länge. Dies ist die im Anfange dieses Aufsatzes erwähnte theilweise Abhängigkeit, in welcher die Einsassen eines Haarkreises von einander stehen; während der eine Einsasse nah’ am Ende seines Lebens angekommen ist, befindet sich der zweite auf der Höhe desselben und der dritte vielleicht im ersten Viertel. Diese Verschiedenheit der gleichzeitigen Lebensepochen verhindert es, daß die Einsassen eines Kreises zu gleicher Zeit ausfallen – die Momente des Ausfallens liegen in weiten Intervallen auseinander. Wäre diese Anordnung nicht getroffen, so würden wir regelmäßig wiederkehrende kleine kahle Flecke an unserem Kopfhaar wahrnehmen. Es kommen auch solche kleine Kahlheiten vor, aber in krankem Zustande – in der Norm erfolgt Ausfall und Ersatz allmählich, und viele Menschen ahnen nicht, daß jeden Tag eine gewisse Anzahl Haare ausfallen muß.

Die meisten acuten Haarkrankeiten beginnen mit einer erheblichen Zunahme des täglichen Haarausfalls; die Haare vollenden ihren ursprünglich veranlagten typischen Gang nicht, sie werden in ihrem Lebensgange vorzeitig unterbrochen.

Ein solcher krankhafter Zustand ist dem Leidenden oder seiner Umgebung so auffällig, daß rechtzeitig ärztliche Hülfe gesucht wird.

Anders ist es bei den chronischen Haarkrankheiten. Sie beginnen nicht mit einem massenhaften Ausfall, sondern mit einer sehr allmählichen Abnahme der ursprünglich veranlagten Länge der einzelnen Haare. Der neue Nachwuchs wird immer kürzer. Da aber seine bisherige Dicke nicht abnimmt, erscheint er in völlig gleicher Dichtheit wie früher. Die Folge davon ist, daß Männer bei ihrer kurzen Haartracht in den ersten Jahren nichts von dem Leiden merken; den Frauen fällt gewöhnlich die große Zahl der kurzen Haare auf, die sich in die gewohnte Frisur nicht recht wollen einreihen lassen. Allein auch sie ahnen nicht, daß dieser Verkürzung des einzelnen Haares nach einer gewissen Zeit eine Verdünnung desselben folgt. Nun erst – indeß sind zwei bis fünf Jahre vergangen – fällt dem Auge das Dünnerwerden des Haarwuchses auf, und nun wird Hülfe gesucht, in der Regel zu spät; ein Haar, das allmählich an Länge und Dicke eingebüßt hat, läßt sich nur selten in den früheren Zustand zurückbringen.

Diejenige Zeitepoche des chronischen Haarleidens, in welcher das Haar an Länge, aber nicht an Dicke einbüßt, nenne ich das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_284.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)